Ist Time under Tension überschätzt?

Ist Time under Tension überschätzt?

 

 

Time under tension (TuT) bedeutet, wie lange ein Muskel während der Ausführung eines Satzes belastet wird. Oder einfach wie lange ein einzelner Satz dauert. In diesem Zusammenhang hört man immer wieder die Empfehlung, dass ein Satz, je nachdem wen man fragt, zwischen mindestens 30 bis 60 Sekunden dauern sollte, um das Muskelwachstum zu maximieren. Einige Experten, darunter z.B. Greg Doucette und Dennis James gehen sogar so weit zu behaupten, dass TuT der wichtigste Parameter überhaupt sei, wenn es um Muskelwachstum geht. Aber stimmt das auch bzw. gibt es Belege für diese These?

 

Genau um diese Frage soll es deshalb im heutigen Artikel gehen.

 

Könnte da was dran sein?

 

Wenn es darum geht, eine möglichst große TuT zu erreichen, gibt es prinzipiell zwei Wege um das zu gewährleisten: entweder man führt die einzelnen Wiederholungen bewusst langsam aus oder man führt besonders viele Wiederholungen aus. Widmen wir uns erstmal der ersten Variante.

 

Ein gutes Argument für die TuT-Theorie liefern insbesondere 3 Studien.

 

Usui und Kollegen ließen zwei Gruppen von Probanden Kniebeugen mit 50% des 1RM ausführen, jeweils 3 Sätze á 10 Wiederholungen. Eine Gruppe führte die Wiederholungen dabei mit einer Kadenz von 3/3 (3 Sekunden exzentrische Phase, 3 Sekunden konzentrische Phase) aus, während die andere Gruppe mit einer Kadenz von 1/1 arbeitete. Das Ergebnis war, dass die Gruppe mit den langsamen Wiederholungen deutlich mehr Muskulatur in den Oberschenkeln aufbaute.

 

Zum gleichen Ergebnis kommen auch Watanabe und Kollegen in gleich zwei Studien, mit sehr ähnlichem Aufbau wie bei der Arbeit von Usui und Kollegen. In beiden Studien wurden 2 Gruppen verglichen, die mit stark unterschiedlichen Wiederholungsgeschwindigkeiten am Beinbeuger bzw. Beinstrecker arbeiteten. Beide Gruppen hatten dabei feste Vorgaben zu den absolvierten Reps (8/12), Sätzen (je 3) und der Intensität (30/50% des 1RM). Und auch in diesen Studien konnte die Superslow-Gruppe jeweils deutlich bessere Ergebnisse in Sachen Hypertrophie erzielen.

 

Ist damit bereits bewiesen, dass eine längere TuT besser ist wenn es um Muskelaufbau geht? Nein! Wenn man sich den Versuchsaufbau mal genauer anschaut, fällt jedem, der sich schon mal mit Studiendesigns und den Grundlagen von Hypertrophie beschäftigt hat, sofort ein gravierender Fehler auf: Die starren Vorgaben für beide Gruppen.

 

Nehmt zum Beispiel mal die Studie von Usui und stellt euch vor, ihr würdet an dieser teilnehmen: 10 Wiederholungen Kniebeugen mit 50% von eurem Maximalgewicht sind wirklich keine große Herausforderung, auch bei 3 Sätzen nicht. Das ist gerade mal ein solides Gewicht für einen Warm up-Satz. Wenn ihr diese 10 Wiederholungen aber bewusst verlangsamt, dann sieht die Sache schon anders aus.

 

Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass es für Hypertrophie unabdingbar ist, zumindest bis nahe zum Muskelversagen zu trainieren, dann ergibt sich daraus, dass die Gruppe mit der langsamen Ausführungsgeschwindigkeit nicht deshalb mehr Gains gemacht hat weil sie die Wiederholungen so ausgeführt hat, sondern weil sie schlicht und ergreifend viel näher ans Muskelversagen gekommen sind bzw. überhaupt in diesem Bereich trainiert haben.

 

Als Beweis für den Einfluss von TuT auf den Muskelaufbau taugen diese Studien aber nicht.

 

Was sagen andere Studien?

 

Diese Limitation gilt nicht für die Studie von Lacerda und Kollegen. In dieser haben 10 Probanden je ein Bein am Beinstrecker mit einer Kadenz von 1/1 und das andere Bein mit einer Kadenz von 3/3 trainiert. Dazu muss man sagen, dass Studien, bei denen die Probanden jeweils ein Gliedmaß unterschiedlich trainieren, statt in Gruppen unterteilt zu werden, den großen Vorteil haben, dass genetische Unterschiede in Sachen Muskelaufbau keine Rolle spielen, wie das ansonsten gerade bei Studien mit kleineren Teilnehmerzahlen durchaus der Fall sein kann.

 

Trainiert wurde mit 50 bis 60% des 1RM und jeweils bis zum Muskelversagen. Dabei betrug die durchschnittliche TuT für das Bein mit der kürzeren Kadenz 25 bis 38 Sekunden und für das mit der längeren Kadenz 37 bis 52 Sekunden. Das Ergebnis: Der Muskelzuwachs an beiden Beinen war identisch.

 

Zum gleichen Ergebnis kommen auch Chavez und Kollegen, bei deren Studie eine Gruppe mit einer Kadenz von 2/2 und die andere Gruppe mit einer selbst gewählten Kadenz, die im Durchschnitt etwas unter 1/1 lag, ebenfalls am Beinstrecker, bis zum Versagen trainierte. Auch hier gab es keinen relevanten Unterschied in Sachen Muskelaufbau.

 

Und schließlich kamen auch Schoenfeld und Kollegen in ihrer Metastudie, in der sie die Ergebnisse von 4 weiteren Studien zu diesem Thema ausgewertet hatten zu dem Schluss, dass unterschiedliche Ausführungsgeschwindigkeiten nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führten, sofern bis zum Muskelversagen (oder kurz davor) trainiert wurde.

 

Es gab auch noch eine weitere Studie, in der die Gruppe mit den langsamen Wiederholungen sogar schlechter abgeschnitten hat, als die Vergleichsgruppe. Schuenke und Kollegen verglichen in Ihrer Arbeit dabei eine besonders lange Kadenz von 10/4, insgesamt also eine Ausführungsdauer von ganzen 14 Sekunden je Wiederholung, mit Probanden die eine normale Geschwindigkeit benutzen. In dieser Studie konnten die Teilnehmer mit der extrem langsamen Ausführungsgeschwindigkeit erheblich weniger Zuwächse verzeichnen als die Vergleichsgruppe. Das könnte (!) darauf hindeuten, dass es sogar eine Obergrenze in Sachen TuT gibt, ab der eine künstliche Verlängerung der Satzdauer zu negativen Ergebnissen führt.

 

Alles in allem kann man aber festhalten, dass die Studienlage recht einheitlich festgestellt hat, dass es bei einer Ausführungsdauer zwischen 0,5 und 8 Sekunden je Wiederholung keinen Unterschied in Sachen Hypertrophie gibt, sofern bis oder kurz vor das Muskelversagen trainiert wird.

 

 

Einschränkungen und weitere Indizien

 

In diesem Zusammenhang muss aber erwähnt werden, dass sämtliche ausgewertete Studien den Nachteil haben, dass ausschließlich mit weitestgehend untrainierten Probanden gearbeitet wurde. Dies wird oftmals als Manko in Sachen Studiendesign gewertet, da nicht immer ausgeschlossen werden kann, dass Teilnehmer mit größerer Trainingserfahrung und mehr Muskelmasse anders auf Reize reagieren.

 

Könnte das auch hier der Fall sein und somit TuT für fortgeschrittene Athleten eine größere Bedeutung haben? Vermutlich nicht.

 

Wie wir bereits in unserem Artikel zur besten Rep-Range anhand zahlreicher Studien (davon einige mit fortgeschrittenen Probanden) besprochen hatten, macht es in Sachen Muskelaufbau keinen Unterschied ob mit 5 oder bis zu 35 Wiederholungen gearbeitet wird, sofern bis zum Muskelversagen trainiert wird. Unabhängig von der Ausführungsgeschwindigkeit ist dabei ganz logisch, dass bei Sätzen mit 35 Wiederholungen eine wesentlich längere TuT erreicht wird als bei welchen mit 5. Hätte die TuT einen messbaren Einfluss auf die Hypertrophie, müsste es hier also erhebliche Abweichungen bei den Resultaten geben, was aber nicht der Fall ist.

 

Man könnte unter Umständen daraus schließen, dass es eventuell eine gewisse Mindestzeit in Sachen TuT gibt und dass dies der Grund ist, warum Maxversuche oder Doubles und Triples keinen relevanten Muskelzuwachs auslösen. Aber genau sagen kann man es nicht, da hier auch andere Faktoren als die TuT eine Rolle spielen könnten.

 

Schlussfolgerung

 

Anhand der vorliegenden Daten aus der Forschung muss man also die ursprüngliche Frage, ob Time under Tension überschätzt wird, mit einem recht eindeutigen „Ja“ beantworten. Zwar gibt es vage Hinweise, dass es vielleicht ein gewisses Mindestmaß dafür gibt, wie lange ein Satz dauern sollte. Aber dass die oft propagierte Satzdauer von 30 bis 60 Sekunden vorteilhaft oder gar notwendig wäre und es einen Mehrwert bringen würde, Wiederholungen künstlich zu verlangsamen, lässt sich definitiv nicht belegen.

 

Das deckt sich letztlich auch mit Erfahrungen aus der Praxis. Wenn man sich anschaut, wie die Top Profis im Bodybuilding trainieren, so gibt es dabei durchaus welche, die mit sehr kontrollierter Ausführung und/ oder hohen Wiederholungszahlen arbeiten aber auch welche die eher mit schweren Gewichten, niedrigen Reps und explosiver Ausführung trainieren. Wie so oft gilt hier: Wenn es die eine, ultimative Art zu trainieren wirklich geben würde, so kann man davon ausgehen, dass auch alle Bodybuilder das gleiche Vorgehen verwenden würden.

 

Heißt das, das Superslow-Training und das Variieren von Ausführungsgeschwindigkeiten generell sinnlos sind? Nein, auch das nicht. Denn umgekehrt beweisen die meisten Studien (von dem Versuch mit den extrem langen Kadenzen abgesehen) zumindest, dass diese Art zu trainieren in Sachen Muskelaufbau auch keinen Nachteil bietet.

So könnte man die Time under Tension z.B. als eine Möglichkeit zum progressive Overload verwenden. Statt zusätzliches Gewicht auf die Stange zu packen, könnte man so auch die Ausführungsgeschwindigkeit verlangsamen und den Muskel so zwingen, mehr zu arbeiten und zu adaptieren, indem er wächst. Dieses Vorgehen macht besonders dann Sinn, wenn man Sehnen und Gelenke etwas schonen möchte oder schlicht nicht mehr Gewicht zur Verfügung steht.

 

Ich hoffe jedenfalls, ihr konntet aus diesem Artikel etwas mitnehmen oder hattet zumindest Spaß am Lesen. Wenn ihr diesen Artikel oder das Thema Time under Tension generell diskutieren wollt, könnt ihr das gerne hier tun!

 

Quellen:

 

Usui et al. (2016): Low-load Slow Movement Squat Training Increases Muscle Size and Strength but Not Power

Watanabe et al. (2013): Increased muscle size and strength from slow-movement, low-intensity resistance exercise and tonic force generation

Watanabe et al. (2014): Effect of very low-intensity resistance training with slow movement on muscle size and strength in healthy older adults

Lacerda et al. (2021): Resistance training with different repetition duration to failure: effect on hypertrophy, strength and muscle activation

Chavez et al. (2020): Effects of resistance training with controlled versus self-selected repetition duration on muscle mass and strength in untrained men

Schoenfeld et al. (2015): Effect of repetition duration during resistance training on muscle hypertrophy: a systematic review and meta-analysis

Schuenke et al. (2012): Early-phase muscular adaptations in response to slow-speed versus traditional resistance-training regimens

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