ein Gastartikel von Vincent Braukämper
Wenn wir in den letzten Jahren einen Hype erleben dürfen, dann ist es das Kalorienzählen, welches gerade seine Renaissance erfährt. Es heißt: „Wer abnehmen will, braucht nur ein Kaloriendefizit!“ Und was auf den ersten Blick logisch klingt – es ist ja Physik – ist auf den zweiten Blick leider nur Halbwissen.
Heute werfen wir einen differenzierteren Blick auf das Thema Kalorienzählen und der eine oder andere wird vielleicht plötzlich verstehen, warum er trotz Kaloriendefizit nicht abnimmt oder trotz Training und Überschuss nicht so gut Muskeln aufbaut, wie er es eigentlich verdient hätte.
Du zählst deine Kalorien eh nicht richtig
Gewagte Aussage? Wir fangen einfach an: Gehen wir davon aus, dass Kalorien erst einmal alle gleich sind. Du nimmst also deinen Tracker und achtest darauf, dein Kalorienziel zu treffen. Und du triffst es im Schnitt sogar immer perfekt. Wo liegt jetzt der Fehler? Darin, dass es Kalorien gibt, die zwar zum physiologischen Brennwert gezählt werden, aber für deinen Körper nicht verwertbar sind. Beispiele gefällig?
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- Mandeln: Die Kalorien aus Mandeln sind bis zu 30 % nicht nutzbar, da die harten Zellwände der Mandeln die enthaltenen Fette einschließen. Zieht dein Tracker diese 30 % beim Kalorienzählen wirklich ab?
- Kartoffeln: Kalte Kartoffeln haben weniger Kalorien als warme! Kein Witz. Grund: Beim Erkalten wird die enthaltene Stärke zu ca. 10-15 % zu resistenter Stärke. Diese ist für uns nicht verdaubar (allerdings gut für das Mikrobiom). Auch, wenn man die Kartoffeln noch mal warm macht, bleibt die Stärke resistent. Gleiches gilt auch für Reis und Nudeln. Doch wer berechnet das beim Zählen der Kalorien oder Planen der Mahlzeiten?
- Ballaststoffe: Ballaststoffe werden energetisch in der Regel auch nicht vollständig verwertet.
- Protein: Protein hat im Kalorienüberschuss kaum noch verwertbare Kalorien. Grund dafür sind thermische Effekte sowie energetisch aufwendige Umwandlungsraten bei der Gluconeogenese und der de-novo-Lipogenese. Ein Proteinüberschuss senkte bei einer Studie sogar trotz zusätzlicher Kalorien den Körperfettanteil und in einer weiteren Studie sogar das Gewicht!
Weiterführende Infos in den Arbeiten von Antonio et al., Webb et al. und Campbell et al.
Der Energieerhaltungssatz ist indiskutabel
Bist du jetzt in der Social-Media-Bro-Science-Bubble unterwegs, wirst du immer wieder mit dem Energieerhaltungssatz konfrontiert: „Es geht keine Energie verloren.“ Ein Kaloriendefizit muss zwangsläufig zur Fettverbrennung führen und ein Überschuss zum Aufbau. Dass der Körper jedoch diverse Stellschrauben hat, an denen er Energie sparen kann, bevor er Fett verbrennt, wissen die meisten Bros nicht. Und die wären?
- Immunsystem: Sehr energieaufwendig. Einfach mal öfter krank werden, weil die Energie fehlt? Passiert.
- Strukturprotein: Im Defizit plötzlich schlechte Haut und brüchige Nägel? Kommt vor.
- Müdigkeit und Unkonzentriertheit: Denn das Gehirn braucht viel Energie.
- Adaptive Thermogenese: Warum ist mir denn ständig kalt?
Stimmt also der Energieerhaltungssatz doch nicht?
Natürlich stimmt er. Der Körper folgt den Gesetzen der Physik, bloß hat die Biologie eben auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und dann ist das Ganze eben nicht mehr so eindimensional, wie viele es sich wünschen würden.
Weniger Körperfett durch zusätzliche Eier
Runden wir das Ganze mit einer kleinen Geschichte ab. In einer Rattenstudie (Saande et al.) wurde – stark vereinfacht – eine Rattengruppe mit Zucker und Fett gemästet und die andere Rattengruppe ebenfalls – und bekam zusätzlich sogar noch Eier! Also, zusätzliche Kalorien. Das Ergebnis wird viele überraschen: Die Rattengruppe mit den zusätzlichen Eier-Kalorien hatte weniger Körperfett.
Auch, wenn das eine Tierstudie ist, sollte hier klar werden: Mit der naiven Auslegung des Energieerhaltungssatzes lässt sich das nicht erklären. Die physikalischen Gesetze gelten ja auch für Ratten.
Was bringen uns diese Infos jetzt beim Kalorienzählen?
Schauen wir den Tatsachen ins Auge: Kalorienzählen funktioniert trotz der genannten Tatsachen für einige Leute sehr gut. Und solange es funktioniert, spricht auch nichts dagegen, es zu tun – vor allem, wenn der Stoffwechsel grundsätzlich intakt und die Nahrungsmittelauswahl größtenteils gesund ist. Wer also damit gut fährt: Weitermachen.
Es gibt allerdings auch Leute, die die Welt nicht mehr verstehen, weil sie trotz Training und passender Energiebilanz –
oft sogar optimierter Makronährstoffe – einfach nicht weiterkommen. Wie kann das sein? Die klare Antwort lautet:
Es geht nicht nur um die Kalorien, sondern auch darum, was damit passiert
Dieses Thema ist deep und in meinem eigenen Blog habe ich bereits über 50 Artikel allein dazu geschrieben. Jetzt versuchen wir, es möglichst einfach herunterzubrechen, damit du den bestmöglichen Überblick bekommst.
Der entscheidende Faktor ist doch: Kommen die Nährstoffe und Energieträger in der Muskulatur an? Helfen sie, diese aufzubauen und werden in den Mitochondrien verbrannt, um dir Lebensenergie zu geben? Oder werden sie einfach an deinen Bauch und deine Hüften geklebt, während du nicht von der Stelle kommst? Oder einfach ausgeschieden?
Genau das wird bestimmt durch die Insulinsensitivität. Einfach formuliert bedeutet das: Je besser die Insulinsensitivität, desto mehr Nährstoffe kommen in die Muskeln. Je schlechter die Insulinsensitivität, desto schwieriger wird es, Muskeln auf- und Fett abzubauen. Jetzt wollen wir natürlich alle wissen:
Wie optimieren wir die Insulinsensitivität?
Ein weites, weites Feld. Schritt 1 besteht darin, die Insulinsensitivität erst einmal nicht zu ruinieren, bzw. Situationen und Verhaltensweisen zu meiden, die deine Insulinsensitivität negativ beeinflussen können. Und Schritt 2 ist dann das gezielte Verbessern deiner Insulinsensitivität.
So zerstörst du deine Insulinsensitivität:
- Ständiges Überfressen (permanenter Kalorienüberschuss)
- Schlafmangel
- Dauerstress
- Chronische Entzündungen
- Nährstoffmangel
- Bewegungsmangel
So verbesserst du deine Insulinsensitivität:
- Krafttraining und Bewegung
- Gesunder Darm
- Nährstoffbedarf decken (Mikronährstoffe wie Omega-3, Vitamin D etc. spielen definitiv eine Rolle)
- Guter Schlaf
- Aktive Entspannung
- Kaloriendefizit
Kleiner Exkurs: Insulinsensitivität und Kalorienüberschuss
Ich schreibe hier ganz bewusst, dass ein Kalorienüberschuss insulinresistent macht und nicht nur ständiger Kohlenhydrat-Konsum. Aber warum? Es stimmt, dass die stärksten Insulin-Ausschüttungen durch Kohlenhydrate bzw. einen starken Blutzuckeranstieg ausgelöst werden. Entsprechend ist es logisch: Wer ständig Kohlenhydrate snackt, schüttet ständig Insulin aus und irgendwann sind die Rezeptoren abgestumpft. Wer jedes Wochenende Vollgas Alkohol trinkt, braucht auch immer mehr Alkohol, um noch etwas zu merken – die Alkohol-Sensitivität nimmt ab.
Der Kohlenhydrat-Insulin-Mechanismus ist recht offensichtlich und in der westlichen Welt sicherlich auch eine der Hauptursachen für eine schlechte Insulinsensitivität. Allerdings ist er nur die halbe Wahrheit. Denn auch freie Fettsäuren besetzen die Insulin-Rezeptoren. Obwohl Fett allein keine Insulin-Reaktion auslöst, macht Fett also insulinresistent? Nicht Nahrungsfett, aber die freien Fettsäuren im Blut tun das, genau. Und die haben wir, wenn…
- ein hoher Körperfettanteil oder
- ein ständiger Kalorienüberschuss
…vorliegt.
Wenn dazu noch ständig Kohlenhydrate gesnackt werden, hat der Körper kaum eine Chance, diese freien Fettsäuren mal abzubauen, da die Mitochondrien Kohlenhydrate bevorzugt nutzen. Sobald Kohlenhydrate reinkommen, wird die Fettsäuren-Oxidation reduziert. Wer insulinsensitiver werden will, tut also gut daran, dem Körper mal Zeit zur Oxidation freier Fettsäuren zu lassen. Das kann in der Praxis durch fast jede Art des Kaloriendefizits geschehen. Fasten oder Low-Carb-Zeitfenster bieten sich dafür in der Praxis oft an, sind aber nicht für jeden optimal.
Verschiede Kalorienquellen setzen unterschiedlich an
Und nein, es wird jetzt nicht esoterisch, sondern eben differenzierter. Denn, je nachdem, ob wir uns im Kalorienüberschuss befinden oder nicht, wirken die Kalorien verschiedener Nährstoffe ganz unterschiedlich. Beispiele gefällig?
Das passiert mit Protein im Kalorienüberschuss:
Zuerst einmal werden Proteine (auch, wenn sie Kalorien haben) nicht bevorzugt zur Energiegewinnung genutzt. Bevor der Körper auf die Idee kommen könnte, Proteine zu Fett umzuwandeln, nutzt er sie für Immunsystem und Organe. Aber angenommen, all das ist erledigt und er weiß wirklich nicht, wohin mit dem überschüssigen Protein: Von 4,1 kcal/g gehen 30 % durch Thermogenese verloren. Der Rest? Muss per Gluconeogenese in Glukose umgewandelt werden. Energieverlust: 25-50 %.
Wenn jetzt Platz in den Glykogenspeichern ist, wird die Glukose dort eingelagert = kein Fettaufbau. Und wenn die Glykogenspeicher voll sind? …wird die überschüssige Glukose per de-novo-Lipogenese zu Körperfett umgewandelt: 20-50 % Energieverlust. Von 4,1 Protein-Kalorien kann im Überschuss (rein theoretisch) im Worst Case 1 kcal im Körperfett landen.
Das passiert mit Kohlenhydraten im Kalorienüberschuss:
Wenn du gerade schon aufmerksam mitgelesen hast, wirst du dir vielleicht gedacht haben: „Ein Kohlenhydratüberschuss müsste dann ja bei der de-novo-Lipogenese ebenfalls 20-50 % Energieverlust haben…“ Und das ist… richtig! Haben wir den ganz simplen Fall, dass alle Glykogenspeicher voll sind und zu viele Kohlenhydrate da sind, so setzen diese zu 50-80 % ihrer Energie als Körperfett an.
Wer Krafttraining betreibt und einen aktiven Lifestyle verfolgt, sollte damit allerdings keine Probleme bekommen, denn ein möglichst großer Puffer an Glykogenspeichern ist die beste Absicherung gegen Fettaufbau aus Kohlenhydraten. Lediglich mit Fruktose sollte man vorsichtig sein (insbesondere bei Säften und Haushaltszucker). Denn diese kann nicht in den Glykogenspeichern der Muskulatur gespeichert werden, sondern nur im Leberglykogen. Sobald das Leberglykogen voll ist, wird überschüssige Fruktose erst einmal direkt ins Körperfett transformiert.
Und Fett?
Hat eine Einlagerungsrate von 97 bis 98 %. Wer also schon im Überschuss ist, tut sich keinen Gefallen, jetzt noch mal Fett obendrauf zu essen. Wichtig: Das bedeutet nicht, dass Fett kein sauberer oder sinnvoller Makronährstoff ist. Ganz im Gegenteil. Alle hier besprochenen Szenarien beziehen sich explizit auf einen Kalorienüberschuss – bring jetzt bitte nichts durcheinander.
Ist Kalorienzählen also sinnlos?
Ich könnte noch stundenlang weiterschreiben – zumal wir das Thema Fettstoffwechsel bisher nur leicht gestreift haben – aber es ist Zeit für ein Fazit:
- Kalorienzählen ist definitiv sinnvoll, um einen Überblick über die Energieaufnahme zu bekommen.
- Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass es dennoch keine absolute Kontrolle liefert und dass – je nach Energiestatus oder Nährstoff – die gleiche Kalorienmenge eine ganz andere Wirkung entfalten kann.
- Die gute Nachricht ist: Solange du Krafttraining betreibst, dich regelmäßig bewegst und nicht permanent stark über oder unter deinem Bedarf bist, ist sowieso alles entspannt.
- Solltest du zu denjenigen gehören, die nicht gut Muskeln auf- oder Fett abbauen können, sind metabolische Gesundheit und Insulinsensitivität möglicherweise genau die Schlüsselfaktoren, die du optimieren solltest.
Kalorienzählen ist also sicherlich ein relevanter Faktor, aber eben nicht der eine, als der es oft dargestellt wird. Aber wie siehst du das? Verrate uns im Forum gerne mehr über deine eigenen Erfahrungen beim Zählen von Kalorien!
Quellen:
- Webb P, Annis JF (1983): Adaptation to overeating in lean and overweight men and women
- Campbell BI, Aguilar D, Conlin L, Vargas A, Schoenfeld BJ, Corson A, Gai C, Best S, Galvan E, Couvillion K (2018): Effects of High Versus Low Protein Intake on Body Composition and Maximal Strength in Aspiring Female Physique Athletes Engaging in an 8-Week Resistance Training Program
- Antonio J, Ellerbroek A, Silver T, Orris S, Scheiner M, Gonzalez A, Peacock CA (2015): A high protein diet (3.4 g/kg/d) combined with a heavy resistance training program improves body composition in healthy trained men and women–a follow-up investigation
- Saande CJ, Bries AE, Pritchard SK, Nass CA, Reed CH, Rowling MJ, Schalinske KL. (2020): Whole Egg Consumption Decreases Cumulative Weight Gain in Diet-Induced Obese Rats