Progressive Overload:
Treiber oder Indikator von Hypertrophie?

Vor kurzem hatten wir im Science-Thread eine Diskussion darüber, ob Progressive Overload ein Mittel ist, um Fortschritte im Training zu erzielen, oder nur ein Beleg dafür, dass man diese bereits erreicht hat…

 

Eine spannende Fragestellung, die nicht nur für die Diskutanten im besagten Thread unseres Forums interessant sein dürfte. Daher möchte ich das Thema in diesem Artikel einmal etwas ausführlicher behandeln und für eine noch größere Leserschaft zugänglich machen.

 

 

Was ist Progressive Overload?

Ich denke, den meisten sollte Progressive Overload ein Begriff sein, aber falls jemand nicht weiß, was damit gemeint ist, hier eine (vereinfachte) Erläuterung:

 

PO (ich kürze das ab hier ab) beschreibt den Mechanismus, dass wir uns im Training fortwährend steigern müssen, um weitere Adaptionen im Sinne von Hypertrophie sowie Kraftaufbau durch neuronale Anpassungen zu erzielen. Oder noch einfacher: Nur durch Steigerung erzielen wir langfristig Fortschritte. Nur wenn wir ihn ständig vor neue Herausforderungen stellen, können wir den Körper zwingen, sich weiterhin an diese anzupassen, indem er Muskulatur aufbaut.

 

Wie wir bereits in diesem Artikel beschrieben haben, kann dies nicht nur anhand von mehr Wiederholungen oder höheren Arbeitsgewichten erfolgen, sondern auch z. B. durch eine Reduzierung der Pausenzeiten, eine langsamere Ausführungsgeschwindigkeit, die Erhöhung des Volumens und auf weitere Arten.

 

Ist Progressive Overload nur ein Indikator für erzielten Fortschritt?

Paul Carter vertritt in Sachen PO eine Ansicht, die mir in dieser Form bis vor kurzem neu war. Und zwar ist seine Argumentation, dass PO kein Mittel wäre, um Hypertrophie zu erzeugen, sondern lediglich ein Indikator dafür, dass Progression stattgefunden hat.

 

Damit wir uns hier nicht falsch verstehen: Auch Paul Carter predigt immer wieder, dass man PO anstreben bzw. erreichen muss, um sich weiterzuentwickeln (wobei für ihn ausschließlich mehr Gewicht und mehr Reps PO darstellt, was eine recht strittige Interpretation ist). Nur sieht er es eben nicht als Stimulator von Fortschritt, sondern eher als ein Nebenprodukt des Trainings. Und sein Ansatz entbehrt auch nicht einer inhärenten Logik, der man sich nicht ohne Weiteres verschließen kann.

 

Mal ein Beispiel: Sagen wir, du drückst ein bestimmtes Gewicht gerade so (mit Müh und Not) 10-mal auf der Bank. Und in der nächsten Einheit schaffst du mit dem gleichen Gewicht 11 Wiederholungen. Damit hast du Progression erzielt. So weit, so klar.

 

Aber: Diese zusätzliche Wiederholung hast du nicht aus dem reinen Willen geschafft, PO anzuwenden oder weil dein Trainingsplan dies so vorgesehen hat, sondern einfach, weil du es konntest. Und du konntest es, weil sich dein Körper durch das vorherige Training an diese Herausforderung angepasst hat. In diesem Fall war PO also nicht das Instrument, um diese Steigerung zu erzielen, sondern dass dieser Overload möglich war, ist das Resultat eines erfolgreichen Trainings.

 

Ein Sportler belädt eine Langhantel mit mehr Gewicht als beim letzten Training, da er das Prinzip von Progressive Overload im Hinterkopf hat.
Um langfristig Erfolge zu erzielen, sollten wir stets versuchen, ein wenig mehr Gewicht auf die Stange zu packen.

 

Auch bei den anderen bereits erwähnten Möglichkeiten zur Progression, die Paul ja ohnehin nicht als solche anerkennt, kann man durchaus argumentieren, dass z. B. eine niedrigere Ausführungsgeschwindigkeit bei gleicher Wiederholungszahl ebenfalls nur aufgrund bereits erfolgter Adaptionen möglich wäre, was seine These ebenfalls bekräftigen würde.

 

…oder ist Progressive Overload doch eher eine Stellschraube?

Wie eben beschrieben gibt es also recht wenig direkte Argumente, die gegen Pauls Auslegung sprechen. Oder doch? Denken wir das Ganze mal weiter…

 

Da haben wir zum Beispiel erst einmal folgende Interpretation von PO: Vielleicht ist Progression an sich tatsächlich erst einmal nur ein Indikator für erfolgreiches Training, aber dieses überhaupt als Grundprinzip des Aufbaus anzuwenden und bewusst zu forcieren, ist es nicht!

 

Wie ist das gemeint? Nehmen wir als erstes das Beispiel, dass jemand überhaupt nicht versucht, sich kontinuierlich zu steigern. In einem Kraftsport-Forum mag das natürlich ein wenig kurios wirken, aber wenn man sich die Realität in den deutschen Fitnessstudios mal anschaut, wird man schnell feststellen, dass es überraschend viele Mitglieder gibt, bei denen das tatsächlich der Fall ist. Besonders bei den Zeitgenossen, die bei der Frage nach ihrem Trainingsziel angeben, “nicht wie ein Bodybuilder” aussehen zu wollen.

 

Ich meine damit eher wenig ambitionierte Freizeitpumper, die Woche für Woche ins Gym fahren und dort einfach immer das Gleiche machen, also die gleichen Übungen, das gleiche Gewicht und die gleiche Wiederholungszahl. Das mag daran liegen, dass Ihnen wirklich hartes Training zu anstrengend ist oder dass Ihnen die Bedeutung von Progression im Training nicht bewusst ist. Dazu gehört aber auch, dass viele glauben, wenn sie dieses Schema eine Weile durchziehen, dass es Ihnen dann nach einer gewissen Zeit so leicht fällt, dass sie irgendwann von ganz allein mehr Gewicht bewältigen können. Sie gehen also davon aus, dass die Kraftzuwächse irgendwann einfach von allein kommen werden.

 

Das wird natürlich nicht passieren, weil der Körper sehr darauf bedacht ist, sich nur soweit anzupassen wie nötig. Ein gutes Pferd springt eben nur so hoch, wie es muss. Stattdessen wird die zwangsläufige Folge sein, dass man weitestgehend stagniert (ein wenig Muskelaufbau wird zumindest eine Zeit lang trotzdem stattfinden). Aber wie bereits erwähnt ist das natürlich ein Fall, der für einen wirklich motivierten Athleten ungewöhnlich wäre und eher von einem Wissensdefizit zeugt.

 

Ganz anders sieht die Sache in einem zweiten Szenario aus. Wie bereits erwähnt akzeptiert Paul ja prinzipiell nur eine Steigerung des Arbeitsgewichts, der Wiederholungszahl oder von beidem (doppelte Progression) als Möglichkeiten, sich zu steigern, und lehnt zudem auch jegliche Form von Deloads oder Resets ab. Wir sprechen also im Prinzip lediglich von linearer Progression, die für Paul akzeptabel wäre, was ebenfalls ein diskutabler Standpunkt ist.

 

Aber die Erfahrungen unzähliger Trainierender zeigt eben auch, dass sehr viele mit linearer Progression irgendwann an einen Punkt kommen, an dem es einfach nicht mehr vorangeht. Dann hängt man monatelang beim gleichen Gewicht und der gleichen Wiederholungszahl und läuft dabei gefühlt jedes Mal gegen eine Wand, ohne diese durchbrechen zu können. Ja, irgendwann wird man vielleicht auch so noch eine Rep herauspressen können, aber de facto bedeutet dieser Zustand eben Stagnation.

 

In dieser Situation kann man nun verschiedene Lösungen anwenden. Die simpelste ist, einfach die Kalorienzufuhr zu erhöhen. Grundsätzlich wird man immer stärker werden, wenn man einfach mehr isst. Aber wie lang will man dieses Spiel spielen, wie viele Kilos ist man bereit, zuzunehmen, um mehr Gewicht im Training zu bewegen, und wird einem dieser Kraftzuwachs langfristig überhaupt dabei helfen, seine Traumfigur zu erreichen? Irgendwann ist einfach der Punkt erreicht, wo das Erhöhen der Kalorienzufuhr keinen Sinn mehr macht.

 

Ein dicker Mann isst an einem kleinen Tisch in einem Trainingsraum, um durch mehr Kalorien Progressive Overload zu erzwingen.
Mehr und mehr Kalorien für den Progressive Overload? Irgendwann sollte man auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen.

 

Stattdessen wäre es sinnvoller, nach Möglichkeiten zu suchen, eine weitere kontinuierliche Steigerung zu erzielen und den progressiven Overload quasi zu erzwingen. Und dabei kommen eben viele der Methoden ins Spiel, die Paul kategorisch ablehnt.

 

So ist Paul ein Verfechter von doppelter Progression, also dem klassischen Ansatz, eine gewisse Reprange anzustreben und wenn man diesen ausgefüllt hat, das Gewicht zu erhöhen. Aber wenn man diese letzte Rep eben nie erreicht, könnte man auch einfach trotzdem das Gewicht erhöhen, wenn auch nur in ganz kleinen Schritten.

 

Oder man wechselt gleich den ganzen Wiederholungsbereich und versucht, ob man sich in diesem wieder steigern kann. Oder man reduziert das Gewicht und arbeitet sich wieder nach oben, um mit neuem “Anlauf” das Plateau zu durchbrechen. Oder man wechselt auf eine wellenförmige Progression statt immer auf Anschlag zu trainieren. Oder man verwendet, Gott bewahre, eben eine der anderen Möglichkeiten für Steigerungen als nur mehr Gewicht oder mehr Reps. Oder oder oder…

 

All das sind Möglichkeiten, um Plateaus zu durchbrechen, die mit linearer Progression nur noch bedingt zu tun haben, aber die eben auch nachweislich funktionieren.

 

Ja, was denn nun?

Im Endeffekt ist die ganze Sache auch eine semantische Geschichte und bis zu einem gewissen Grad auch schlicht eine Frage der Interpretation. Letztlich bedeutet Progressive Overload in der Praxis am Ende nur, dass man sich ständig steigern muss, um besser zu werden. Sich aber überhaupt steigern zu können, ist das Resultat erfolgreichen, zielgerichteten Trainings und ausreichender Regeneration. Insofern kann man Paul Carter auch nur bedingt widersprechen, wenn er sagt, dass PO nur ein Indikator für gutes Training ist und keine Technik bzw. ein Mittel, um Hypertrophie zu erzeugen.

 

Aber wie in den Beispielen oben beschrieben ist Fortschritt eben etwas, dass selbst bei vollem Einsatz und prinzipiell gutem Training irgendwann nicht mehr nur “von alleine” passiert und lineare Progression funktioniert für die meisten ab einem gewissen Punkt nur noch langsam oder überhaupt nicht mehr.

 

Dann gilt es, nach Möglichkeiten zu suchen, sich trotzdem weiterhin und dauerhaft zu steigern. Und in Situationen der Stagnation Tools im Werkzeugkasten zu haben und zu wissen, wann und wie man diese anwendet, um weiterhin Progression zu erzielen, würde ich sehr wohl als Werkzeug, Treiber oder Mittel zum Aufbau von Kraft- und Muskelaufbau sehen.

 

Vereinfacht lautet meine Interpretation also in etwa so: Ja, vielleicht ist Progressive Overload tatsächlich nur ein Indikator für Hypertrophie, aber zu wissen, wie man Progression jederzeit, kontinuierlich und langfristig erzielen kann, ist es nicht. Das ist durchaus ein Treiber und etwas, dass den Unterschied zwischen einem guten und einem herausragenden Athleten darstellen kann.

 

Natürlich kann man bei diesem Punkt auch diskutieren und Haare spalten, aber der Ansatz, dass Progressive Overload etwas ist, was quasi nebenher und automatisch passiert und nicht bewusst forciert werden sollte, ist mir eben etwas zu simpel.

 

Aber was ist deine Meinung? Ist Progressive Overload wirklich nur ein Indikator oder doch eher Treiber für Hypertrophie? Verrate es uns hier!

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