Kaum ein Thema hat in den letzten Jahren für einen vergleichbaren Aufruhr in der Szene gesorgt wie die Vorgehensweise, Muskeln in gedehnter Position zu trainieren. Die Influencer-Horde war natürlich sofort zur Stelle, ihren Followern diesen vermeintlichen Stein der Weisen in Sachen Trainingswissenschaft vorzustellen und dessen Effektivität über den grünen Klee zu loben. Das hatte auch einen deutlich spürbaren Einfluss auf die Trainierenden, zumindest diejenigen, die sich mit Theorien zu Muskelaufbau beschäftigen und stets versuchen, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse für ihr Training zu nutzen.
Plötzlich war es bei jeder Übung unheimlich wichtig, dass sie in einer gestreckten Position ausgeführt wird und die Muskelfasern dabei maximal gestretcht werden. Ein weiterer Effekt war, dass Teilwiederholungen auch eine regelrechte Renaissance erlebten, nachdem sie lange verpönt waren oder nur als Intensitätstechniken eingesetzt wurden, wenn überhaupt. Eigentlich war man sich einig, dass stets eine möglichst große Range of Motion (RoM) angestrebt werden sollte.
Was es damit auf sich hat, wie effektiv das Ganze ist und was die Mechanismen dahinter sein könnten, versuchen wir heute im Rahmen dieses Artikels zu klären. Und bei dieser Gelegenheit sagen wir dir auch gleich, was Influencer bei diesem Thema gerne missverstehen und womit es eigentlich weit weniger zu tun hat, als man zunächst annehmen könnte…
Aber noch eine Warnung vorab: Das Thema ist ziemlich komplex und auch wenn ich einige Punkte nur stark vereinfacht darstelle, wird es trotzdem ein ziemlich langer (und an manchen Stellen eventuell etwas trockener) Text. Wenn du dir das nicht antun möchtest, kannst du gleich zur Zusammenfassung springen.
Die Studienlage
Seinen Ursprung hat der Hype um Dehnung im Hinblick auf das Muskelwachstum in einigen Studien, die fast alle zwischen 2020 und 2023 entstanden sind.
Zunächst einmal wären da die Studien, in denen der Muskelaufbau bei Teilwiederholungen in Bereichen verglichen wurden, bei denen der Muskel entweder in einer verkürzten oder in einer langen Position trainiert wurde. Sato und Kollegen (2) prüften dies beispielsweise, indem sie eine Gruppe Bizepscurls in einem Bereich zwischen 0 und 50° (langer Muskel) und eine andere in einem Bereich von 80 bis 130° (kurzer Muskel) trainieren ließen. Fast identisch verfuhren auch Pedrosa und Kollegen in ihrer Studie (7) zu Teilwiederholungen bei Bizepscurls. McMahon und Kollegen hingegen ließen ihre Probanden den Quadrizeps entweder in einem Kniewinkel von 0-40° (kurz) oder zwischen 50 und 90° (lang) trainieren (3). Das Ergebnis: in allen drei Studien erzielten die Teilnehmer, die den Zielmuskel in einer gestreckten Position trainiert hatten, signifikant höhere Muskelzuwächse. Da dabei jeweils bis oder nahe zum Muskelversagen trainiert und das Arbeitsgewicht entsprechend angepasst wurde, ist das naheliegende Argument, der Bereich des verkürzten Muskels sei “leichter” gewesen übrigens auch nicht zutreffend. Trotzdem könnte man hier unter Umständen auch noch andere Argumente finden, warum ein Teilbereich besser sein könnte als der andere.
Besonders interessant waren deshalb auch die Studien, in denen nicht nur verschiedene Teilbereiche verglichen wurden, sondern in denen auch eine volle RoM ausgeführt wurde.
Dazu gehört unter anderem die Studie von Kassiano und Kollegen (1), in der 42 junge Frauen ihre Waden in den Bereichen -25 bis 0° (langer Muskel), 0 bis +25° (kurzer Muskel) und über den vollen Bewegungsumfang (-25 bis +25°) trainierten. Auch in den Studien von Werkhausen (9), erneut Pedrosa (8) und Goto (10) wurde das Training in einem Teilbereich bei gestreckter Muskelposition mit einer vollen RoM verglichen. Und auch bei diesen 4 Arbeiten bewirkte das Training in dem Teilbereich, in dem der Muskel eine verlängerte Position einnahm, mindestens die gleichen Zuwächse an Muskulatur wie das Training über den vollen Bewegungsspielraum, teilweise sogar mehr. Das ist insofern überraschend, da bei einer vollen RoM natürlich auch dieser Teilbereich absolviert wurde. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass es irgendwas an Training mit einer gestreckten Muskellänge gab, dass für einen erheblichen Vorteil in Sachen Hypertrophie verantwortlich war.
Weiter bestätigt wurde diese Annahme durch Studien, bei denen von den Vergleichsgruppen zwar grundsätzlich der gleiche Grad an Bewegungsumfang absolviert wurde (z. B. 0-90°), der Muskel sich aber aufgrund der Haltung bzw. der Startposition bereits in einem verlängerten Zustand befand. Wie ist das zu verstehen? Ein Beispiel wäre hier der Beinbeuger, der sowohl am Knie als auch an der Hüfte ansetzt, weshalb man diesen sowohl mit einer Knieflexion (Beincurls) als auch mit einer Hüftstreckung (z. B. rumänisches Kreuzheben) trainieren kann. Ist die Hüfte bei einer Übung durchgehend gebeugt, dann streckt dies den Muskel bereits vor dem eigentlichen Beginn der Bewegung. Das ist der Fall, wenn wir eine sitzende Beincurl-Maschine benutzen, aber nicht, wenn wir stattdessen die liegende Variante verwenden. Und deshalb haben Maeo und Kollegen auch diese beiden Geräte miteinander verglichen. Und tatsächlich erwies sich die sitzende Variante als die effektivere, wenn es um den Aufbau der Hams geht (6). In einem weiteren Versuch erzielten Maeo und Kollegen (4) diesen Effekt, indem sie bei ihrer Studie den Trizeps entweder mit angelegtem (kurz) oder über dem Kopf gehaltenen Arm (lang) trainieren ließen, erneut mit klaren Vorteilen für die verlängerte Position.
Ganz neu ist die Studie von Larsen und Kollegen aus dem Jahr 2024 (12). In dieser führten 2 Gruppen den Beinstrecker aus, wobei sich die eine Gruppe weiter nach hinten lehnte, während die andere aufrecht sitzen blieb. Dazu muss man wissen, dass der Rectus femoris – im Gegensatz zu anderen Teilen des Quadrizeps – ebenfalls an der Hüfte ansetzt und durch das Zurücklehnen somit ebenfalls gestreckt wird. Dementsprechend war dann auch das Wachstum der anderen Bereiche der Quads identisch, aber der Rectus femoris wuchs erheblich besser durch das Zurücklehnen.
2023 schließlich machten es sich Milo Wolf und seine Kollegen zur Aufgabe, die Ergebnisse von 23 Studien zum Training in bestimmten Bewegungsbereichen zusammenzutragen und auszuwerten. In dieser Metaanalyse (11) kamen sie zu dem Schluss, dass im Allgemeinen zwar das Training über die volle RoM nach wie vor zu bevorzugen wäre, wenn es aber ausschließlich um Hypertrophie geht, partielles Training von Muskeln in der gestreckten Position sogar leicht bessere Ergebnisse erbringt.
An dieser Stelle muss man aber einwenden, dass der Großteil der Studien zu diesem Thema einen Makel haben: Sie wurden fast alle mit untrainierten Teilnehmern ausgeführt. Inwiefern ist das in diesem Zusammenhang relevant? Viele Kritiker dieser Studien argumentieren, dass der Großteil des festgestellten Muskelaufbaus von Teilwiederholungen in verlängerter Muskelposition (“lengthened Partials”) nicht aus klassischer Hypertrophie, also dem Zuwachs des Querschnitts von Muskelfasern (radiale Hypertrophie) resultieren, sondern aus Sarkomergenese. Sarkomere kann man sich vorstellen wie die Glieder einer Kette, die aneinandergereiht eine Muskelfaser bilden. Bei einer Dehnung des Muskels unter Widerstand, wie es vor allem (aber nicht ausschließlich) bei einer Betonung der exzentrischen Phase oder beim Training in verlängerter Muskelposition auftritt, werden zusätzliche Sarkomere erzeugt und die Muskelfasern verlängern sich, was zu einem Anstieg der Muskelmasse führt. Dies bezeichnet man als Sarkomergenese. Dieser Effekt tritt aber hauptsächlich bei Trainingsanfängern auf und ist für fortgeschrittene Trainierende daher eher irrelevant. Unterstützt wird diese These von der Feststellung, dass es besonders der distale, also äußere Bereich eines Muskels war, der bei den Studien zu lengthened Partials besonders starke Zuwächse verzeichnen konnte.
Weitere Anhaltspunkte, die diese Annahme bekräftigen, liefern die Studien von Blazevitch (26) und Timmins (27). Dabei ging es zwar um den Vergleich von rein konzentrischem und rein exzentrischem Training und nicht direkt um lengthened Partials, aber da die Sarkomergenese – wie bereits erwähnt – auch bei Training mit besonderer Betonung der exzentrischen Phase verstärkt auftritt, lässt sich hier durchaus ein Zusammenhang feststellen. Bei diesen Studien wurde jedenfalls festgestellt, dass die Vorteile eines rein exzentrischen Trainings hauptsächlich während der ersten Wochen des Versuchs auftraten, die Zuwächse sich aber nach dieser Phase angeglichen hatten.
Und tatsächlich konnte bei einer gerade erst erschienenen Studie (25) mit erfahrenen Probanden, bei der unter anderem auch Jeff Nippard teilgenommen hat, kein Vorteil von Teilwiederholungen in langer Muskelposition gegenüber einer Ausführung über die volle RoM festgestellt werden. Dass für Personen mit einer gewissen Trainingserfahrung diese Form des Trainings einen Vorteil in Sachen Hypertrophie bringen würde, darf zum aktuellen Zeitpunkt jedenfalls bezweifelt werden. Zumindest sofern sie bisher nicht nur ausschließlich oder hauptsächlich in verkürzter Muskelposition trainiert haben. Das bezieht sich aber lediglich auf den Vergleich zwischen dem Training über die volle RoM und Teilwiederholungen in langer Position. Dass es Vorteile bringt, den Muskel während des Trainings in eine lange Position zu bringen und dort zu belasten, bleibt hiervon unberührt.
In diesem Video wird die neue Studie, an der auch Jeff Nippard teilgenommen hat, vorgestellt.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass es nach aktuellem Stand der Wissenschaft wohl tatsächlich zutreffend zu sein scheint, dass das Training eines Muskels in gestreckter Position besonders effektiv ist in Sachen Hypertrophie bzw. dass die Ausdehnung eines Muskels erheblichen Einfluss auf den Grad an Muskelaufbau hat. Dies ist zumindest die Schlussfolgerung der meisten ausgewerteten Studien.
Warum Dehnung nur eine untergeordnete Rolle spielt
An dieser Stelle muss ich zugeben, dass der zweite Teil meines Titels nicht wirklich zutreffend ist, was ich aber selbst erst im Zuge der Recherche für diesen Artikel vollumfänglich realisiert habe. Als ich angefangen habe, das Material für diesen Artikel zusammenzutragen, ging ich davon aus, dass die Dehnung (Stretch) des Muskels hier der entscheidende Punkt bzw. der Mechanismus hinter diesem Phänomen wäre. Aber da lag ich falsch.
Und nicht nur ich, sondern auch ein Großteil aller Fitness-Influencer, die versucht haben, dieses Thema in 30-sekündigen Clips zu vermitteln. Der Punkt, den diese Influencer und mit Ihnen unzählige ihrer Follower nicht verstanden haben, ist, dass es sich hierbei nicht um dehnungsinduzierte Hypertrophie handelt und dementsprechend dem Stretch in dieser Diskussion eine weit größere Bedeutung zugeschrieben wird, als es eigentlich der Fall sein sollte.
Zunächst einmal: Ja, es gibt dehnungsinduzierte Hypertrophie. Und nicht nur das, in Tierstudien wurde dadurch das größte je in einem Versuch festgestellte Muskelwachstum überhaupt erzielt (bis zu 170 % Zuwachs!) (19). Streng genommen handelte es sich hierbei nicht mal nur um herkömmliche Hypertrophie (Vergrößerung des Querschnitts von Muskelfasern) sondern sogar um Hyperplasie (Bildung neuer Zellen im Muskelgewebe). Und auch beim Menschen wurde dieser Effekt bereits nachgewiesen, wenn auch mit weit weniger spektakulären Ergebnissen (17, 18).
Um dehnungsinduzierte Hypertrophie auszulösen, müssen die Muskeln aber sehr lange und sehr intensiv gedehnt werden. Das ist auch der Grund, warum der Muskelzuwachs beim Menschen nicht annähernd so stark ausgefallen ist wie bei Tieren: Das Maß an Dehnung (teilweise bis zu 24 Stunden am Tag) wäre für menschliche Probanden schlicht unzumutbar. Aber auch bei den menschlichen Studienteilnehmer waren mehr als 1,5 Stunden Dehnung die Woche notwendig, um messbare Zuwächse verzeichnen zu können, wenn überhaupt. Und dabei wurden die Muskeln so stark gedehnt, dass während der Dehnungsphase permanent ein Schmerzgrad zwischen 7 und 8 auf einer Skala bis 10 erzielt wurde. Erreicht wurde dies z. B. durch den Einsatz einer solchen Apparatur:
Jedenfalls ist es nahezu ausgeschlossen, dass durch Training in langer Muskelposition das notwendige Maß an Dehnung sowie die erforderliche Dauer erreicht werden, die für echte dehnungsinduzierte Hypertrophie notwendig wären. Und selbst wenn kürzere Dehnungsphasen ebenfalls einen Effekt hätten, auch dann wäre es mehr als unwahrscheinlich, dass dieser die Ursache für den besseren Muskelaufbau bei Training in gestreckter Muskelposition wäre.
Wenn wir von Dehnung sprechen, dann meinen wir damit, dass ein Muskel (inklusive Sehnen, Faszien und Bindegewebe) durch mechanische Krafteinwirkung über seinen normalen Bewegungsradius hinaus bewegt wird, was dann ein Ziehen und irgendwann Schmerz auslöst. Wenn wir uns aber anschauen, mit welchen Radien in den Studien zu diesem Thema gearbeitet wurde, dann fällt auf, dass dieser Zustand in fast keinem Versuch wirklich erreicht wurde. Teilweise wurde sogar nur mit einem Winkel von 90° gearbeitet und hier sind wir unabhängig davon, ob der Muskel bereits vor Ausführung in einer gestreckten Position war, weit von einer echten Dehnung entfernt.
Auch die 0°-Stellung bei den Studien, in denen der Bizeps trainiert wurde, stellt noch keine echte Dehnung dar. Zwar ist dies für die meisten Menschen tatsächlich der Endpunkt des vollen Bewegungsspielraums, allerdings begrenzt hier das Gelenk bzw. der Knochen eine noch größere Streckung, nicht der Muskel oder die Sehnen. Ansonsten würde bereits das Herabhängenlassen des Arms eine dehnungsinduzierte Hypertrophie auslösen.
In den Studien zum Quadrizeps wurde mit einem Winkel von maximal 120° gearbeitet, bei voller RoM (z. B. Ass-to-Grass-Beugen) beträgt der Grad der Knieflexion aber um die 150°. Zudem zeigen Studien (14, 15), dass der Quadrizeps schon bei einer Kniebeugung von 90° maximal hypertrophiert und eine weitere Steigerung der Knieflexion keinen Mehrwert bietet.
Daraus lässt sich schließen, dass der Quadrizeps bereits bei diesem Winkel lang genug ist, um die Effekte des Trainings in gestreckter Position ausnutzen zu können. Fun Fact: So gesehen hat Joel Seedman sogar tatsächlich recht mit seinem oft belächelten Argument, 90°-Beugen wären optimal für Muskelaufbau. Allerdings ist das ziemliche Wortklauberei, denn hier geht es nur um den Quadrizeps, und die anderen Muskeln des Oberschenkels und der Gluteus wachsen erheblich besser, wenn man tiefer beugt.
Der Punkt ist jedenfalls: Wenn Influencer behaupten, man solle immer den maximalen Stretch anstreben oder Leute glauben, ein Ziehen im Muskel wäre ein Indikator für eine besonders effektive Ausführung, dann haben sie die Studien entweder nicht verstanden, nicht gelesen oder die falschen Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Maximale Dehnung ist weder notwendig, noch bietet sie per se einen Mehrwert. Es geht darum, einen Muskel in einer langen, aber nicht maximal (!) langen Position zu trainieren, wenn man die Hypertrophie optimieren möchte. Wenn man sich aber anschaut, wie oft in diesem Zusammenhang von Stretch gesprochen und versucht wird, aktiv einen Zustand zu erreichen, in dem tatsächlich ein starkes Ziehen verspürt wird, kann man schnell den Eindruck gewinnen, es würde genau darum gehen.
Dass dem nicht so ist und es eventuell sogar nachteilig sein könnte, in Sachen Bewegungsspielraum wirklich bis ans Limit zu gehen, dafür spricht die Studie von Stasinksi und Kollegen (5). In dieser wurden, wie bei der Studie von Maeo (4) Trizeps-Pushdowns mit einer Überkopf-Variante (wie z. B. Katanas) verglichen und es handelte sich um eine der wenige Studien, in denen wirklich mit einer maximalen RoM gearbeitet wurde (Ellbogenflexion 140°). Witzigerweise war dies auch eine der wenigen Studien, die KEINEN Vorteil beim Training mit einer gestreckten Muskelposition nachweisen konnte.
Auch erwähnen sollte man, dass bei der bereits besprochenen Studie von Larsen und Kollegen (12), in der festgestellt wurde, dass ein Zurücklehnen bei der Ausführung des Beinstreckers im Vergleich zur normalen Sitzposition zu besserem Muskelzuwachs geführt hat, eine dritte Gruppe die Übung in einer komplett liegenden Position ausgeführt hatte, bei der die Muskeln somit noch erheblich weiter gedehnt wurden als beim reinen Zurücklehnen. Die Resultate dieser Gruppe waren ebenfalls etwas schlechter als die der Gruppe, die sich nur zurückgelehnt hatte. Dies ist ein weiterer Indikator dafür, dass eine maximale Dehnung nicht notwendig und unter Umständen sogar nachteilig sein kann.
Mögliche Erklärungen
Natürlich wäre es interessant, zu wissen, welcher Mechanismus für das Mehr an Hypertrophie durch das Training in langen Muskelpositionen verantwortlich ist. Aber ich habe die Überschrift für diesen Abschnitt bewusst so gewählt, denn die Sache ist leider die: Man weiß es einfach nicht.
Hin und wieder lässt sich ein Influencer – oder sogar weitaus seriösere Experten wie Chris Beardsley – dazu verleiten, einen bestimmten Faktor als ursächlich anzugeben. Aber wenn man sich durch die Literatur wühlt, kommen Zweifel auf, dass ein bestimmter Initiator zweifelsfrei benannt werden kann und es gegen jede mögliche Erklärung auch berechtigte Einwände gibt.
Schauen wir uns mal die bekanntesten Erklärungsversuche an (wobei wir dehnungsinduzierte Hypertrophie ja bereits behandelt bzw. ausgeschlossen haben).
(1) Mechanische Spannung
Mechanische Spannung ist einer, wenn nicht DER Haupttreiber für Hypertrophie (21). Mechanische Spannung ist im Prinzip die Zugkraft bzw. der Widerstand, der einem Muskel entgegenwirkt, wenn er sich verkürzt (also kontrahiert). Das bedeutet aber nicht, dass der Grad der mechanischen Spannung allein vom bewegten Gewicht abhängt, da hier auch die maximal mögliche Geschwindigkeit der Bewegung ein Faktor in dieser Gleichung ist. So lässt sich auch mit geringerem Gewicht (sofern eine gewisse Mindestschwelle überschritten wird) eine maximale mechanische Spannung erzeugen, wenn man nah genug ans Muskelversagen geht und somit alle Muskelfasern voll rekrutiert werden. Das ist auch die Begründung dafür, dass man mit 5 bis ca. 35 Reps in etwa gleich gut Muskeln aufbauen kann (siehe hier), und dass Nähe zum Muskelversagen besonders bei hohen Wiederholungszahlen wichtig ist (siehe hier).
Neben der aktiven Spannung, die immer dann am höchsten ist, wenn der Muskel am meisten Kraft aufbringen kann (meist ca. in der Mitte des Bewegungsumfangs), gibt es auch eine passive Spannung, die auftritt, wenn ein Muskel unter Widerstand gestreckt wird (in der exzentrischen Phase). Zusammen bilden diese dann die Gesamtspannung. Die aktive und die passive Spannung verlaufen konträr, das heißt: Wenn der Muskel gestreckt wird, nimmt zwar die passive Spannung zu, aber die aktive dafür ab.
Die Theorie besagt nun, dass die Zunahme der passiven Spannung bei gestreckten Muskeln so hoch ausfällt, dass sie die Abnahme der aktiven Spannung mehr als nur ausgleicht und die Gesamtspannung in diesem Bereich somit am höchsten ausfällt. Wenn dem so wäre, dann wäre das eine plausible Erklärung für die positiven Effekte des Trainings in diesem Bereich.
Das Problem an dieser Theorie ist, dass eine Betrachtung der Drehmoment-/Winkel-Kurve eigentlich dagegen spricht, dass die Gesamtspannung bei gestreckter Muskelposition wirklich am höchsten ist, wobei hier auch noch weitere Faktoren hineinspielen. Deshalb reicht das allein noch nicht, um diese These zu widerlegen.
Was aber noch deutlicher gegen diese Theorie spricht, ist folgender Faktor: Sofern andere Faktoren wie Vektor bzw. Richtung der einwirkenden Kraft, maximaler Bewegungsspielraum und verwendeter Hebelarm identisch sind, MUSS eine höhere Gesamtspannung zwangsläufig zu einem höheren Output in Form höherer Gewichte führen.
Das ist bei einigen der aufgeführten Studien in der gestreckten Position aber nicht der Fall, z. B. bei der Studie von Maeo und Kollegen (4). Hier konnten die Teilnehmer bei den Pushdowns (0-90°, nur über das Ellbogengelenk ausgeführt) mehr Gewicht verwenden als bei der Überkopfvariante und erzielten trotzdem weniger Muskelzuwachs. Hier traten diese positiven Effekte in Sachen Hypertrophie also auf, obwohl die Gesamtspannung nachweislich niedriger war.
(2) Titin als Signalgeber für Wachstumsreize
An dieser Stelle müssen wir eine kleine Exkursion zum Thema “Wie hängt mechanische Spannung mit tatsächlicher Hypertrophie zusammen?” einlegen. Ansonsten ist dieser Punkt schwer zu verstehen.
Auf der Oberfläche der Muskelfasern sitzen bestimmte Proteinkomplexe, die sogenannten Costamere. Diese verbinden die Muskelfasern mit dem sie umschließenden Bindegewebe. Wird eine Muskelfaser aktiviert, verändert sich dessen Position zum Bindegewebe, wodurch Zugkräfte auf die Costamere – als Bindeglied zwischen Faser und umliegendem Gewebe – einwirken. Werden die Costamere diesen Zugkräften ausgesetzt, so senden sie über die Neurotransmitter Signale aus, die wiederum die Proteinsynthese in Gang setzen. Aktuell geht man davon aus, dass dies der primäre Weg ist, wie mechanische Spannung in einen Hypertrophiereiz übergeht (21).
Aber es gibt nicht nur Proteine auf der Oberfläche der Muskelfasern, sondern auch welche, die sich in deren Inneren befinden. Dazu gehört auch Titin. Von diesem wird angenommen, dass es ebenfalls eine Signalfunktion besitzt, vergleichbar mit den Costameren (22, 23, 24). Da Titin aber keine Verbindung mit dem Bindegewebe hat, reagiert es vermutlich auf Änderungen der Muskelspannung, vor allem aber auf Veränderungen in der Muskellänge. Dies tritt natürlich verstärkt beim Training mit gestrecktem Muskel auf.
Es wäre also möglich, dass sich die Signalwirkung von Costameren und Titin addieren, wenn ein Muskel in einer verlängerten Position trainiert wird und somit für den größeren Effekt im Vergleich zum normalen Training sorgen. Tatsächlich ist dies eine naheliegende und auch wahrscheinliche Ursache für die beschriebenen Effekte. Das Problem dabei ist, dass (Stand jetzt) weder bewiesen ist, dass Titin überhaupt einen Einfluss auf Hypertrophie hat, noch dass dieser Effekt tatsächlich besonders beim Training mit Muskeln in gestreckter Position auftritt. Hier ist also noch weitere Forschungsarbeit notwendig.
(3) Hypoxer Stress und Laktat
Da beim Training in Teilbereichen eines Muskels in verlängerter Position die Momente der Entlastung entfallen (z. B. Endpunkt bei Kniebeugen), werden diese unter konstanter Spannung absolviert. Dadurch verengen sich während der Ausführung die Kapillaren, wodurch der Abfluss des Blutes im Muskel behindert wird (stärkerer Pump). In Folge dessen kommt es zu einem Sauerstoffmangel in der Muskulatur und zu einem schlechteren Abtransport von Metaboliten. Es ist bekannt, dass dieser hypoxe Stress zwar die Leistung verringert, aber gleichzeitig trotz verminderter Leistung zu den gleichen Resultaten in Sachen Hypertrophie führt.
Dieses Prinzip wird beispielsweise beim Blood Flow Restriction Training (BFR) angewendet. Hierbei wird ein Muskel abgebunden, um bewusst den Abfluss des Blutes zu behindern. Bei dieser Art des Trainings können nur recht geringe Arbeitsgewichte verwendet werden, der Muskelaufbau ist aber vergleichbar mit herkömmlichem Training mit höheren Gewichten.
Vergleichbar oder meinetwegen auch gleich heißt aber eben nicht, dass der Muskelaufbau durch diese Art des Trainings größer wäre als bei normalem Training. Deshalb lassen sich die besseren Ergebnisse bei langer Muskelposition damit nicht erklären. Zumal der hypoxe Stress dann auch in anderen Teilbereichen mit kürzeren Muskellängen auftreten müsste, solange nur die Endpunkte der Bewegung vermieden werden.
In eine ähnliche Kerbe schlägt die These, dass Laktat eine Erklärung bieten würde. Dieses sammelt sich durch den verminderten Blutabfluss ebenfalls vermehrt in der Muskulatur an und Training über den vollen Bewegungsraum und in Teilbereichen mit verlängerten Muskeln erzeugt aufgrund der höheren mechanischen Arbeit je Wiederholung ohnehin eine stärkere Laktatreaktion. Es gibt Hinweise (zumindest bei Mäusen), dass Laktat unter Umständen Hypertrophie-Signale verstärken kann. Allerdings ist das aktuell noch eher Spekulation. Außerdem ist eine höhere Ansammlung an Laktat nichts, dass exklusiv beim Training eines gestreckten Muskels auftreten würde. Als Erklärung für dessen verstärkte Wirksamkeit taugt also auch das nicht wirklich.
(4) Hormonausschüttung
Training mit verlängertem Muskel erzeugt auch einen vermehrten Ausstoß an anabolen Hormonen wie Testosteron, Wachstumshormonen und IGF-1, zumindest kurzzeitig nach dem Training. Wie wir aber bereits in unserem Artikel “Wächst der Bizeps durch Kniebeugen” besprochen hatten, scheint der temporäre Ausstoß von Wachstumshormonen keinen relevanten Einfluss auf den Muskelaufbau zu haben. Außerdem gilt auch hier, dass dieses Phänomen nicht exklusiv beim Training mit gedehnten Muskeln auftritt, sondern auch von kurzen Pausenzeiten, dem Training größerer Muskelpartien und anderen Trainingsformen ausgelöst werden kann. Somit fällt auch diese Begründung aus.
Neben den bereits genannten Theorien gibt es auch noch weitere, die allerdings allesamt äußerst hypothetisch sind und es eher unwahrscheinlich ist, dass sie eine valide Begründung darstellen. Meist, weil diese möglichen Ursachen in einem anderen Kontext bereits gezeigt hatten, dass Sie keinen nennenswerten Einfluss auf Hypertrophie / Muskelwachstum haben.
Milo Wolf, der sich eingehend mit der Thematik beschäftigt und auch die bereits erwähnte Metastudie dazu verfasst hat, hält die These, dass Titin hauptverantwortlich ist, nach aktuellem Stand für die naheliegendste. Da diese durchaus plausibel ist, und es – im Gegensatz zu anderen Theorien – zumindest keine offensichtlichen Gegenargumente gibt, ist das auch nicht unwahrscheinlich. Bewiesen ist es allerdings nicht und vermutlich wird dieser Beweis auch in absehbarer Zeit nicht erbracht werden können, da die Forschung zum Thema Titin aufwendig ist und man neben der Funktion von Titin allgemein auch das spezifische Szenario bei Training mit gestreckten Muskeln untersuchen müsste.
Denkbar wäre aber auch, dass viele oder sogar alle der genannten Faktoren sich addieren und zusammen für den messbaren Effekt verantwortlich sind. Auch wenn diese einzeln in Studien keine signifikanten Vorteile erzeugen konnten, heißt das nicht automatisch, dass sie gar keinen Effekt hätten. Und durch synergetische Effekte könnte es so eben doch sein, dass diese summiert einen messbaren Einfluss erzeugen könnten. Aber sicher sagen kann man es aktuell eben noch nicht.
Empfehlungen für die praktische Umsetzung
Nachdem wir uns nun ausgiebig mit der Theorie beschäftigt haben, kommen wir nun zum für die meisten interessantesten Teil unseres Artikels: Die praktische Umsetzung um die beschriebenen Vorteile des Trainings bei gestreckter Muskelposition.
Was die bisherigen Erkenntnisse nicht bedeuten
Vielleicht fangen wir erst einmal damit an, was es nicht bedeutet: So scheint es nach genauerer Betrachtung der Methodik bei den Studien absolut nicht notwendig, unbedingt eine wirkliche Dehnung zu erzeugen oder grundsätzlich immer den maximal machbaren Bewegungsspielraum auszunutzen. Wie bereits erwähnt scheint es schlicht ein Trugschluss zu sein, anzunehmen, dass ein deutliches Ziehen im Muskel ein Indikator für die Effektivität einer Übung oder Ausführung sei.
Das heißt nicht, dass Dehnen generell keinen Sinn ergeben würde oder nicht empfehlenswert wäre. Dehnen erhält oder erhöht die Mobilität und kann somit dazu beitragen, geschmeidig zu bleiben, Verletzungen vorzubeugen und Übungen wie die Kniebeuge technisch besser auszuführen. Und auch in Sachen Hypertrophie kann Dehnen Vorteile bringen. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass die Kernaussage dieses Artikels nicht lautet, dass es keine dehnungsinduzierte Hypertrophie gibt, sondern lediglich, dass diese (höchstwahrscheinlich) nichts mit dem Effekt von Training mit verlängerten Muskeln zu tun hat, wie meist behauptet. Wenn man sich aber sehr oft und intensiv dehnt, so kann es durchaus sein, dass somit auch zusätzliche Muskulatur aufgebaut wird. Nur findet dieses Dehnen dann eben außerhalb des Trainings statt, nicht im Rahmen einer Übungsausführung.
Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass es offenbar keinen Vorteil bringt, den Bewegungsbereich, in dem der Muskel lang ist, zusätzlich zu überladen. Damit meine ich, die Widerstandskurve so zu beeinflussen, dass in diesem Bereich das meiste Gewicht auf dem Muskel lastet. Auch das wurde untersucht. In einer Studie ließen Nunes und Kollegen (13) zwei Gruppen Preacher Curls ausführen. Eine Gruppe verwendete dabei eine SZ-Stange, während die zweite Gruppe eine kabelgeführte Variante ausführte, wobei das Kabel in einem Winkel geführt wurde, der in etwa der Neigung der Armauflage entsprach. Somit bildete das Kabel beim voll ausgestreckten Arm eine Verlängerung des Unterarms. Wichtig ist hierbei, dass der Widerstand auf den Bizeps dann am höchsten ist, wenn die Zugkraft in etwa senkrecht zum Unterarm ist. Dies wäre also bei der kabelgeführten Version ungefähr in der Mitte der Bewegung der Fall, während die mechanische Spannung mit der SZ-Stange am Anfang der Bewegung (also wenn der Muskel lang ist) am höchsten ist. Der Muskelaufbau beider Gruppen war aber gleich. Insofern kann man daraus schließen, dass bei langer Muskelposition zwar noch ein gewisser Widerstand bestehen muss, dieser aber nicht höher sein muss als in der sonstigen Bewegung.
Welche Trainingstipps sich aus den Erkenntnissen ableiten lassen
Nachdem wir das nun ebenfalls abgehandelt hätten, kommen wir nun zu den tatsächlichen Tipps für das Training, um diese positiven Effekte nutzen zu können.
Zum einen wäre da die Empfehlung, Übungen einzubauen oder gezielt auszuwählen, die den Muskel bereits in der Ausgangsstellung in eine längere Position bringen. So macht es z. B. Sinn, statt dem liegenden den sitzenden Beinbeuger auszuführen, weil hier durch die Hüftbeugung bereits eins Streckung des Beinbizeps erfolgt. Auch sich auf dem Beinstrecker nach hinten zu lehnen, bietet einen Mehrwert, ebenso wie eine Überkopf-Variante im Trizepstraining zu verwenden. Dabei sollte man jedoch beachten, was genau man damit eigentlich bezwecken will bzw. wann eine Positionsveränderung überhaupt Sinn ergibt. So haben wir beispielsweise gesehen, dass bei Überkopfvarianten der Trizeps besser wächst. Das resultiert aber nur daraus, dass der lange Kopf hier besser trainiert wird, weil nur dieser an der Schulter ansetzt und dementsprechend auch nur dieser durch die Überkopfposition gestreckt wird. Beim Beinstrecker profitiert nur der Rectus femoris vom Zurücklehnen, weil nur dieser an der Hüfte befestigt ist, und auch beim Beinbeuger setzt nur der lange Kopf an Hüfte und Knie an und wird dadurch durch die Hüftbeugung im Sitzen besser getroffen. Insofern macht es besonders für Trizeps und Beinbizeps Sinn, auch andere Übungen zu verwenden und nicht nur auf die vermeintlich besseren Varianten zu setzen.
Ganz allgemein ändert sich auch durch die relativ neuen Erkenntnisse zum Training in langen Muskelpositionen nichts an der generellen Empfehlung, den Großteil seines Trainings mit der vollen Range of Motion auszuführen. Also dem maximalen Bewegungsspielraum, der angenehm ausführbar ist. Wenn man das gesamte Spektrum der positiven Aspekte von Krafttraining betrachtet, also Muskel- und Kraftaufbau, Erhalt der Beweglichkeit, Steigerung sportlicher Leistungsfähigkeit und Funktionalität, so bietet diese Art des Trainings nach wie vor den meisten Benefit. Bei einem Teil der Studien konnte ohnehin kein Vorteil in Sachen Muskelaufbau von Teilwiederholungen in langer Muskelposition gegenüber einer vollen RoM festgestellt werden und wie bereits weiter oben beschrieben, ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass diese Vorteile, sofern sie eintraten, hauptsächlich dem Umstand geschuldet sind, dass die Studienteilnehmer zuvor keine Trainingserfahrung hatten und diese aus der Bildung zusätzlicher Sarkomere resultieren. Fortgeschrittene hätten demnach keinen Vorteil von einem ausschließlichen Training mit Teilwiederholungen.
Kein Vorteil bedeutet in diesem Kontext aber auch nicht, dass es Nachteile in Sachen Hypertrophie bringen würde. Auch bei erfahrenen Liftern waren die Zuwächse im Vergleich zum Training über den vollen Bewegungsspielraum zumindest gleichwertig. Somit kann es in der Praxis durchaus auch Sinn machen, Teilwiederholungen auf die eine oder andere Art ins Training zu integrieren, zum Beispiel wenn die volle Range of Motion Schmerzen auslöst oder als eine Art Intensitätstechnik, wenn keine volle RoM mehr ausgeführt werden kann. Nicht außer Acht lassen sollte man dabei aber, dass ein Training in langer Muskelposition zu einer höheren Erschöpfung und mehr Muskelschäden führt. Besonders im Rahmen eines hochfrequenten Trainings sollte dies also berücksichtigt werden. Hier gilt dann das Gleiche wie auch für andere Intensitätstechniken: Sie können ein wertvolles Tool sein, um noch mal ein paar Prozent Hypertrophie herauszukitzeln oder Zeit zu sparen, aber ein exzessiver Einsatz kann dazu führen, dass die Regeneration unnötig verlängert wird und man am Ende sogar Nachteile davon hat.
Wenn man sich anschaut, wie viele Bodybuilder trainieren, dann sieht man auch, dass diese Art des Trainings keineswegs neu ist und auch lange vor dem aktuellen Hype praktiziert wurde. Semi-tiefe Kniebeugen ohne Lockout oder Bankdrücken, bei dem nur der untere Teil der Übung ausgeführt wird, sind typische Beispiele dafür. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie dafür von Science-Nerds lange belächelt wurden, die heute genau das Gleiche machen.
An dieser Stelle sollte ich noch auf mögliche Einschränkungen verweisen. So wurden die Effekte von Training in gestreckter Muskelposition unter anderem längst nicht bei allen Muskeln nachgewiesen. Tatsächlich waren es sogar nur einige wenige. Es kann also auch schlicht sein, dass diese Art des Trainings nicht bei allen Muskeln funktioniert. Im Gegenteil gibt es gute Argumente dafür, dass dies z. B. beim Latissimus und beim Gluteus, die zu den Muskeln gehören, bei denen bisher kein positiver Effekt festgestellt werden konnte, auch nicht funktionieren kann. Die Begründung liegt darin, dass diese in der gestreckten Position aufgrund ungünstiger Hebel keine effektive Kraftentfaltung entwickeln können und somit die mechanische Gesamtspannung trotz hoher passiver Spannung nicht ausreicht, um einen ausreichenden Reiz zu setzen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist also definitiv noch weitere Forschungsarbeit erforderlich, um dieses Phänomen vollumfassend zu verstehen.
Abschließende Anmerkungen zu Dehnung und Hypertrophie
Abschließend sollte man die ganze Thematik aber auch etwas einordnen. Wie immer, wenn wieder eine neue Sau durchs Fitness-Dorf getrieben wird, neigen einige dazu, regelrecht hysterisch zu werden und die Sache völlig überzubewerten. Aber das Rad wurde auch dieses Mal nicht völlig neu erfunden.
Zunächst einmal muss man sich anschauen, von was für Unterschieden wir hier eigentlich sprechen. Ja, die Ergebnisse der Studien sind durchaus interessant und ja, man kann auch in der Praxis von diesen profitieren. Aber letzten Ende geht es auch dieses Mal wieder nur um ein paar Prozent und viele dieser Mechanismen werden bereits im Training verwendet, im Endeffekt ändert sich also nichts Grundlegendes. So waren Partials schon seit langem ein Tool im Bodybuilding-Training und auch, dass durch Überkopfvarianten der lange Kopf des Trizeps besser getroffen werden kann, war schon seit langem bekannt. Vielleicht liegt es auch daran, dass manche Fitness-Influencer die ganze Geschichte ein wenig aufbauschen müssen und Dinge hineininterpretieren, die die Literatur gar nicht hergibt.
Als ich angefangen habe, für diesen Artikel zu recherchieren, ging ich davon aus, dass dies ein Artikel wie jeder andere werden würde. Also ich stelle ein paar Studien vor, werte diese aus und ziehe dann eine Schlussfolgerung mit Tipps für die Praxis. Angefangen habe ich meine Suche, indem ich hauptsächlich die Suchbegriffe “Stretch” und “Dehnung” in Kombination mit Hypertrophie verwendet habe. Insofern war ich nach einer Weile der Suche und der Durchsicht der Studien doch ziemlich überrascht, dass dies eben nicht wirklich was miteinander zu tun hat, sondern es sich bei “lengthened Partials” und “stretch mediated Hypertrophy” im Prinzip um zwei völlig getrennte Themen handelt, die aber irgendwann einfach in einen Topf geworfen wurden. Übrigens zum Teil sogar von Leuten, die etwas von der Materie verstehen und nicht einfach nur den typischen 0815-Influencern mit Rabattcode. Ebenso war ich überrascht, dass das Thema auch insgesamt so komplex ist und wie viele Aspekte hier zusammenkommen, weshalb der Aufwand für diesen Artikel ungleich höher war als bei anderen, die ich verfasst habe. Mit dem Ergebnis bin ich selbst aber recht zufrieden, da ich beim Schreiben dieses Mal auch selbst etwas lernen konnte und es hoffentlich auch geschafft habe, einen Text zu erstellen, der auch denjenigen noch einen Mehrwert bietet, die mit den genannten Studien und der Thematik grundsätzlich vertraut sind.
Bei einem so umfangreichen Artikel, in dem auch zahlreiche andere Themen angeschnitten werden, ist aber natürlich immer eine gewisse Gefahr gegeben, dass sich doch Fehler eingeschlichen haben. Solltest du deshalb an einer Stelle der Meinung sein, ich hätte etwas missinterpretiert, dann wäre ich dir tatsächlich dankbar, wenn du mir das im Diskussionsthread zu diesem Artikel mitteilen würdest!
Zusammenfassung
- Muskeln in einem Bereich zu trainieren, in dem diese langgezogen sind, verursacht nach aktuellem Wissensstand tatsächlich mehr Hypertrophie als das Training in Bereichen mit verkürzten Muskeln und teilweise sogar mehr als das Training über den vollen Bewegungsspielraum.
- Allerdings deuten neuere Untersuchungen darauf hin, dass Teilwiederholungen mit gestreckten Muskeln für Fortgeschrittene nicht effektiver sind als ein Training über die volle RoM, sondern nur für Anfänger.
- Dehnung kann Hypertrophie erzeugen, allerdings muss die Dehnung dafür lang und intensiv sein. Deshalb ist dies höchstwahrscheinlich nicht der Grund für die Effektivität von Training in langer Muskelposition.
- Die Hintergründe für diesen Effekt sind aktuell unklar, naheliegend wäre aber eine additive Signalwirkung aus Titin und Costameren.
- Eine echte Dehnung während der Übungsausführung ist nicht erforderlich, um diesen Effekt nutzen zu können.
- Ein zusätzliches Überladen des Bewegungsbereichs mit gestreckten Muskeln bietet offenbar keinen Mehrwert.
- Der beschriebene Effekt wurde nicht bei allen Muskeln nachgewiesen und Stand jetzt ist unklar, ob er bei allen Muskeln überhaupt auftritt.
- Die Verwendung von Übungen, bei denen der Muskel sich bereits in der Ausgangsstellung in einer verlängerten Position befindet (wie z. B. Überkopfvarianten), erscheint sinnvoll.
- Allgemein sollte der Großteil des Trainings über die volle Range of Motion absolviert werden. Die Ergänzung von Teilwiederholungen in langer Muskelposition könnte aber zusätzliche Hypertrophie erzeugen.
Quellen:
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