Cozy Cardio

Cozy Cardio – was ist dran am Hype?

 

von Ulrike Hacker

 

Trends im Sport kommen und gehen. Dabei hat sich in den letzten Jahren die Tendenz zu Formen des Trainings gezeigt, die uns verweichlichten Mitglieder der Zivilgesellschaft aus der Komfortzone rauslocken sollten. HIT, CrossFit, Hyrox, Obstacle Races … Hauptsache schweißtreibend. Doch im Kontrast hierzu hat sich ein neuer Hype entwickelt, der grade das Internet im Sturm erobert: Cozy Cardio. Was das genau ist, für wen es sich eignet und wo die Vor- und Nachteile liegen, erklärt dieser Artikel.

 

 

Was ist Cozy Cardio?

 

Cozy Cardio bedeutet übersetzt „gemütliches Ausdauertraining“. Es geht also um eine Art der Bewegung, die unser kardiovaskuläres, bzw. Herzkreislaufsystem trainiert und uns gleichzeitig eine angenehme, nahezu kuschelige Erfahrung bietet.

 

Dabei ergibt sich die „Gemütlichkeit“ zum einen aus der Intensität des Trainings. Die wird nämlich bewusst niedrig gehalten. Kein Schnaufen, kein Japsen, kein Schwitzen. Cozy Cardio ist der Gegenentwurf zu der „Go hard or go home“-Mentalität, die so lange den Freizeitsport beherrscht hat. Training soll sich einfach gut anfühlen und an die Bedürfnisse des Körpers angepasst werden.

 

Zum anderen sollen die Rahmenbedingungen für Wohlfühlatmosphäre sorgen. Lichterketten, Duftkerzen, schummrige Beleuchtung, bequeme Bekleidung, der liebste Podcast, die liebste Netflix-Serie im Hintergrund oder auch das Naturerlebnis draußen im Wald – während der Körper sanft gefordert wird, soll die Seele sich gestreichelt fühlen. Widrige Umstände wie winterliche Witterung oder lange Anfahrtswege zur Sportstätte sind zu vermeiden.

 

 

Welche Sportarten eignen sich für Cozy Cardio?

 

Für Cozy Cardio eignen sich alle Sportarten, die in jedem Ausdauertraining gängig sind:

 

– Joggen (aber langsam!)

– Walken/Spazierengehen, gern auch in Gesellschaft und mit einem Coffee to go in der Hand

– Radfahren

– Stepper, Stairmaster und sonstige Cardiogeräte

 

Entgegen dem Wortlaut des Konzepts sind auch Disziplinen mit keinem oder nur geringen Ausdaueranteil wie Yoga oder Pilates unter Cozy Cardio-Anhängern verbreitet.

 

Wichtig ist, dass der – oder tendenziell eher die – Trainierende Freude an der ausgewählten Bewegungsform findet.

 

 

 

 

 

 

Wo kommt das eigentlich her?

 

Als Erfinderin des Cozy Cardio gilt die amerikanische Influencerin Hope Zuckerbrow. Nach jahrelangem freudlosen Sporttreiben gegen die Pfunde entschied sie sich, künftig mit ihrem Körper zu kooperieren und endlich Spaß am Training zu finden. 2022 postete sie ihr erstes „Cozy Cardio“ auf TikTok und hält sich seitdem konstant in den Charts. Der Hashtag macht unaufhaltsam die Runde und hat sich zu einer echten Bewegung mit tausenden Anhängern entwickelt.

 

 

Was sind die Vorteile von Cozy Cardio?

 

Wer jetzt innerlich die Augen verdreht und im Cozy Cardio nur weitere Auswüchse der viel gescholtenen Generation Z sieht, sollte weiterlesen. Tatsächlich ist Cozy Cardio mit einigen Vorteilen verbunden:

 

 

Verbesserte Ausdauer

 

In Cozy Cardio steckt eben doch der Cardio-Aspekt. So ganz spurlos geht auch das sanfteste Training nicht am Körper vorbei. Insbesondere bei totalen Anfängern kann auch das Fahrradfahren mit Yankee Candle und Klangschalen durchaus die Ausdauerleistung verbessern und somit die Herzkreislaufgesundheit fördern. Auch die Belastbarkeit im Alltag nimmt zu.

 

 

Sonstige physiologische Benefits

 

Die aktuelle Studienlage deutet an, dass Ausdauertraining in sehr niedriger Intensität die „metabolische Fitness“ durchaus verbessern kann. Gemeint sind hier verschiedene Parameter wie die Insulinsensitivität, die Ruhestoffwechselrate, die Effizienz des Fettstoffwechsels usw.

 

 

Niedrige Einstiegsbarrieren

 

Der überwiegende Teil unserer Leser mag im Sport seine Leidenschaft gefunden haben. Das trifft aber auf viele, wenn nicht auf die meisten Menschen überhaupt nicht zu. Der Durchschnittsbürger muss sich für jede Form der körperlichen Betätigung massiv überwinden. Da bietet Cozy Cardio einen niedrigschwelligen Einstieg und eröffnet allen Personen auf jedem Fitnesslevel den Weg in den Sport.

 

An dieser Stelle ist natürlich auch eine breite Zielgruppe zu erwähnen, für die Cozy Cardio – oder wie immer man das nennen möchte – ohnehin alternativlos ist: Schwangere und Mütter kurz nach der Entbindung, verletzte und rehabilitierende Personen, Adipöse, Hochbetagte usw.

 

 

Dranbleiben leicht gemacht

 

Die Anfangsmotivation lässt sich für viele Menschen noch halbwegs leicht erzeugen. Der Teufel steckt im Dranbleiben – und erfahrungsgemäß scheitern die meisten, weil sie von Anfang an zu viel wollen. Die Alles-oder-nichts-Einstellung führt in der Realität doch öfter zum Nichts als zum Alles. Cozy Cardio passt auch in den Alltag, wenn es grade mal stressig ist, wenn die Nacht kurz war und wenn eben mal keine Motivation da ist. Der Spaziergang zum Hörbuch mogelt sich an Ausreden eher vorbei als das zweistündige Workout in Zone 5. Das gewährleistet Consistency – und auf die kommt es ja im Sport besonders an.

 

 

Mentale Gesundheit

 

Dass Training generell zur mentalen Gesundheit beitragen kann, sollte bekannt sein. Manch ein Leser mag nun anmerken, dass auch und gerade hochintensives Training Glückshormone en masse produziert. Doch jeder Mensch ist anders und physisches Wohlbefinden lässt sich auf verschiedene Arten erzeugen. Wer beispielsweise an einem Burnout erkrankt ist und sich vom Leben ohnehin überfordert fühlt, für den wird ein knallhartes Sportprogramm wohl nur noch einen zusätzlichen Stressfaktor darstellen. In diesen Fällen kann Cozy Cardio zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und sowohl sportliche Betätigung als auch Me Time gewährleisten.

 

 

 

 

 

Was sind die Nachteile von Cozy Cardio?

 

Klingt soweit ganz gut? Trotzdem sind die genannten Vorzüge kein Grund, die schwere Langhantel gegen den Raumbefeuchter auszutauschen. Cozy Cardio ist doch mit einigen Nachteilen verbunden:

 

 

Mittelmäßige Resultate für die Ausdauerleistung

 

Ja, auch schnelles Walken setzt einen gewissen Trainingsreiz mit entsprechender Adaption. Die Effekte sind aber gegenüber „richtigem“ Ausdauertraining, das auch mal den Puls ansteigen lässt, bescheiden. Wer also eine effektive und vor allem zeiteffiziente Sportart sucht, um wirklich seine Fitness zu verbessern, ist bei Cozy Cardio nicht gut aufgehoben.

 

 

Geringer Kalorienverbrauch

 

Der Ausdruck „Kalorien verbrennen“ beinhaltet ja irgendwie schon, dass da eine Verbrennung stattfindet, ergo eine gewisse Wärme entstehen sollte. Wer beim Cardio keinen Schweißtropfen vergießt, hat diesen Effekt offensichtlich verfehlt. Tatsächlich führt sanftes Training zu einem wenn überhaupt vernachlässigbaren Kalorienverbrauch. Der Energieumsatz bei einer Stunde mittelschnellen Joggen liegt beispielsweise fast doppelt so hoch wie der bei einem einstündigen Spaziergang.

 

Wem es ohnehin nicht auf die Kalorien ankommt, der kann diesen Kritikpunkt getrost ignorieren. In der Praxis schielt aber der Großteil der vor allem weiblichen Cozy Cardio-Szene ja doch auf eine schlanke Figur. Und da wird der niedrige Verbrauch insbesondere dann zum Problem, wenn er maßlos überschätzt wird. Häufig sehr großzügig berechnende Fitnesstracker tun ihr Übriges, um das Problem zu verschärfen. Und schon wird der 20-minütige Spaziergang als Freifahrtschein zum Schlemmen verstanden.

 

 

Kaum Effekte auf den Muskelaufbau

 

Ausdauersport sollte per se nicht die erste Wahl sein, wenn das Ziel Muskel- und Kraftaufbau lautet. Bei Cozy Cardio passiert an dieser Front natürlich erstrecht wenig bis gar nichts. Auch hier gilt: Wer ohnehin keinen Wert auf einen dicken Ärmel legt, wird vom Cozy Cardio nicht enttäuscht werden. Da sich die ein oder andere aber doch zumindest stramme Oberschenkel wünscht, ist begleitendes Krafttraining sehr zu empfehlen. Dabei kann man sich ja auch eine Folge Fest und Flauschig anhören.

 

 

Weniger Selbstwirksamkeit

 

Beim Cozy Cardio ist also der Weg das Ziel. Beziehungsweise, es wird gar nicht erst ein Ziel formuliert. Und das kann je nach Persönlichkeit und Lebensumständen auch vollkommen ok sein. Andererseits verpassen Cozy Cardio-Anhänger(innen) das erhebende Gefühl, das sich aus der stetigen Leistungsverbesserung durch progressives Training ergibt. Die Metamorphose vom „Cardio-Bunny“ zur ernsthaften Kraftsportlerin ist schon tausendfach geschehen und hat viele Frauen in ihrem Selbstwert insgesamt ungemein gestärkt. Im bewusst lasch gehaltenen Cardio kann das so nicht geschehen.

 

 

 

 

 

Cozy Cardio – Fazit

 

Cozy Cardio passt so richtig zu unserer Zeit, möchte man meinen: Alles erfolgt im Schongang, nichts darf mehr wehtun. Die 4-Tage-Woche-Mentalität greift nun auch im Sport um sich. Erst die Abschaffung der Bundesjugendspiele, dann auch noch das!

 

Klar, Cozy Cardio beschneidet das Training um vieles, das die meisten Menschen doch gerade daran schätzen. Die Überwindung der eigenen Grenzen, die stetige Arbeit am Fortschritt und der Umgang mit Rückschritt und Niederlagen.

 

Auf der anderen Seite schafft Cozy Cardio eine inklusive Nische, die vielen Sportmuffeln das erste Mal im Leben positive Erfahrungen mit körperlicher Bewegung vergönnt. Und hierauf kann vielleicht perspektivisch aufgebaut werden.

 

Schließlich ist der Unterschied hinsichtlich der Trainingseffektivität und -effizienz zu all jenen, die sich im Fitnessstudio stundenlang zwischen TikTok-Videos auf dem Smartphone und halbgare Wiederholungen am Kabelzug aufhalten, ohnehin überschaubar.

 

Was haltet ihr von Cozy Cardio? Sagt es uns hier!

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