Jahrzehntelang haben Bodybuilder, um den Deltamuskel zu trainieren, Seitheben mit Kurzhanteln ausgeführt. Aber was wissen Bodybuilder schon von Muskelaufbau? Gott sei Dank gibt es heutzutage Influencer und Instagram-Coaches…
…denn nun wissen wir endlich, dass man Seitheben (und auch so ziemlich jede andere Übung) eigentlich nur am Kabelzug effektiv ausführen kann. Warum? Weil die Widerstandskurve hier wesentlich besser ist! Was die Theorie dahinter ist und ob das wirklich stimmt, verraten wir dir in diesem Artikel.
Die Idee
Fangen wir erst damit an, was eigentlich die Idee hinter diesem Vorgehen ist und was damit bezweckt werden soll. Um das vollumfänglich zu verstehen, muss man sich erst einmal mit den Themen Dehnung, lengthened partials und stretch mediated hypertrophy beschäftigen. Da dieses Thema aber ziemlich komplex ist und es en détail zu besprechen hier den Rahmen sprengen würde, verweise ich an dieser Stelle auf unseren (äußerst lesenswerten) Artikel zu Dehnung und Hypertrophie, falls du dich dafür interessierst.
Aber hier mal die maximal reduzierte Kurzfassung (damit man zumindest halbwegs versteht, warum Influencer so gerne am Kabelturm spielen): Diverse Studien aus den letzten Jahren legen nahe, dass ein Muskel besonders gut wächst, wenn er in der gedehnten Position trainiert wird. Das wäre bei Bizepscurls etwa der Teil der Bewegung, bei welcher der Arm annähernd gestreckt ist, oder bei Übungen für den Quadrizeps der Teilbereich, bei dem die Knie stark angewinkelt sind. Zwar ist dieser Effekt bei Weitem nicht so spektakulär, wie man dir manchmal weismachen will, denn es ist keine tatsächliche Dehnung im eigentlichen Sinne notwendig und es wurde auch nur bei einigen wenigen Muskeln festgestellt, aber es gibt zumindest recht eindeutige Indizien, dass Training in diesem Teil der Bewegung wesentlich effektiver ist, als wenn man den Muskel in einer verkürzten Position trainiert. Bekräftigt wird diese Theorie durch weitere Studien, die gezeigt haben, dass diese Teilwiederholungen in langer Muskelposition (sogenannte lengthened partials) bei Fortgeschrittenen den gleichen Muskelzuwachs erzeugen wie ein Training über die volle Range of Motion, also den kompletten Bewegungsspielraum einer Übung.
Davon ausgehend scheint es auch durchaus sinnvoll, die Widerstandskurve einer Übung dahingehend anzupassen, dass die mechanische Spannung in diesem Teilbereich besonders hoch ist. Was ist damit gemeint? Grundsätzlich ist die Kraft, die einem Muskel entgegengesetzt ist, dann am größten, wenn sie in einem 90° Winkel zum Hebelarm steht.
Schauen wir uns, um das zu veranschaulichen, mal Bizepscurls mit einer Langhantel an. Der Hebelarm ist in diesem Fall der Unterarm, der die Hantel hält und der Widerstand eine Kombination aus dem Gewicht der Hantel und der Schwerkraft. In der Ausgangsstellung sind Hebelarm und Kraftvektor in einer Linie und der Widerstand auf den Bizeps somit quasi null. Je mehr der Arm nun gebeugt wird, desto höher wird der Widerstand und desto mehr Anstrengung ist erforderlich. Am höchsten ist der Widerstand, wenn der Arm zu 90° gebeugt und in einer waagerechten Position ist. Da das Gewicht der Hantel immer in gerader Linie zum Boden wirkt, bildet sich nun besagter rechter Winkel zwischen dem Hebelarm und der Richtung der einwirkenden Kraft. Wird die Bewegung nun weiter fortgeführt, nimmt der Widerstand immer weiter ab, bis er in der Endposition wieder annähernd bei null ist (zumindest, was den Bizeps angeht). Jeder, der schon eine Weile trainiert, wird auch schon selbst festgestellt haben, dass der mittlere Bereich des Curls, sofern sie halbwegs strict ausgeführt werden, deshalb der schwierigste Teil der Bewegung ist.
Grundsätzlich arbeitet man beim Training mit freien Gewichten immer gegen die Schwerkraft und somit wirkt die Kraft hier immer nur in eine Richtung, und zwar nach unten. Benutzt man nun einen Kabelzug, kann man das aber ändern und somit frei entscheiden, aus welcher Richtung der Widerstand kommt.
Beim Seitheben mit Kurzhanteln ist deshalb der Widerstand bei herabhängendem Arm minimal und erreicht seinen Peak erst, wenn der Arm komplett angehoben wird. Hier ist der Muskel aber in verkürzter Position und die Theorie sagt nun mal, dass das Training in diesem Bereich weniger effektiv ist, als wenn der Muskel gedehnt wäre, also wenn der Arm senkrecht nach unten hängt.
Führt man Seitheben aber am Kabelturm aus und stellt dessen Umlenkrolle auf Höhe der Hand bei herabhängendem Arm ein, ändert sich das Widerstandsprofil gravierend. Nun wirkt die Kraft in der Ausgangsposition in rechtem Winkel auf den Hebelarm ein und nimmt im weiteren Verlauf der Bewegung ab, also genau umgekehrt wie beim Training mit Hanteln. Das bedeutet auch, dass der Widerstand nun in gedehnter Muskelposition am größten ist.
Wieso ist das überhaupt wichtig? Die einwirkende Kraft, in diesem Fall also deine Trainingsgewichte, sind neben der maximal möglichen Geschwindigkeit der Bewegung die Hauptvariable für die mechanische Spannung. Und mechanische Spannung ist einer der, wenn nicht DER Haupttreiber für Hypertrophie, also Muskelaufbau.
In der Theorie klingt dieses Vorgehen also absolut logisch. Aber gilt das auch für die Praxis?
Die Studienlage
Genau dieser Frage gingen Stian Larsen, Milo Wolf, Brad Schoenfeld und andere in ihrer neuen Studie nach, deren Preprint gerade erschienen ist (1). In dieser führten 24 Probanden mit einer durchschnittlichen Trainingserfahrung von 7 Jahren Seitheben aus, wobei ein Arm hierfür Kurzhanteln verwendete, während der andere Arm mit einem Kabel trainierte, dessen Rolle in etwa auf Höhe der Hand eingestellt war, wie weiter oben beschrieben. Dass hier unilateral trainiert wurde und die Teilnehmer nicht in Gruppen eingeteilt wurden, spricht für ein gutes Studiendesign, weil somit Unterschiede in Sachen Genetik, Ernährung und Lebensstil zwischen den Teilnehmern nicht ins Gewicht fielen.
Und das Ergebnis? Beide Methoden erzeugten nahezu identische Resultate!
Nun könnte man natürlich argumentieren, dass es sich nur um ein Preprint handelt, die Ergebnisse also nicht unabhängig überprüft wurden. Aber das Design der Studie ist durchaus solide und die beteiligten Wissenschaftler zu erfahren und renommiert, als dass davon auszugehen wäre, dass man ihnen grobe handwerkliche Fehler vorwerfen könnte.
Außerdem gibt es auch noch eine weitere Studie, die bereits untersucht hatte, ob es Vorteile bringt, die Widerstandskurve einer Übung so anzupassen, dass der Widerstand in der langen Muskelposition am größten ist. In dieser wurde zwar nicht der Deltamuskel untersucht (zu dem es ohnehin keine Studie zur generellen Wirksamkeit von lengthened partials gab), sondern der Bizeps. Aber trotzdem gelten hier die gleichen Mechanismen.
2020 ließen Nunes und Kollegen 35 Teilnehmer 10 Wochen lang Preacher Curls (auch bekannt als Scott Curls) ausführen (2). Eine Gruppe verwendete hierfür eine Hantelstange, die andere trainierte am Kabel, das ungefähr in einem 45-Grad-Winkel verlief. In diesem Fall war es die Hantelstange, die für eine höhere mechanische Spannung in der gedehnten Position sorgte, da hier der Kraftvektor in der Startposition einen rechten Winkel zum Hebelarm bildete, während das mit dem Kabel erst der Fall war, wenn der Arm gebeugt und der Muskel verkürzt war. Dementsprechend könnte man davon ausgehen, dass in diesem Fall die Hantel zu besseren Ergebnissen führen sollte. Aber dem war nicht so. Auch in diesem Versuch waren die Zuwächse nahezu identisch.
Neben den beiden genannten gibt es noch zwei weitere Studien, die sich zumindest indirekt mit den Auswirkungen des Widerstandsprofils in Bezug zur Muskellänge beschäftigt haben. Zabaleta-Korta und Kollegen verglichen das Bizepswachstum bei 38 Frauen zwischen Preacher Curls mit einer Langhantel und Incline Curls mit Kurzhanteln (3). Preacher Curls waren hier die Variante, bei welcher der Load in langer Muskelposition höher war. Und tatsächlich erzielte die Preacher Curl-Gruppe deutlich bessere Resultate. Allerdings hat diese Studie erhebliche Schwächen. So erzielte die Gruppe, welche die Incline Curls ausführte, streng genommen überhaupt keine Zuwächse, was ein klarer Indikator dafür ist, dass hier etwas nicht stimmen kann. Und die Zuwächse der Preacher Curl-Gruppe konnten fast ausschließlich im distalen Bereich festgestellt werden, was eher für Sarkomergenese als für wirkliche Hypertrophie spricht. Ein großes Problem am Versuchsdesign war, dass mit freiwilligem Muskelversagen gearbeitet wurde, was grundsätzlich ein großes Manko in Studien zu Muskelwachstum darstellt.
Eine weitere Studie von Maeo und Kollegen verglich Nordic Curls und sitzende Beincurls in Bezug auf das Wachstum des Biceps femoris (Beinbeuger)(4). Nordic Curls bieten den größten Widerstand, wenn der Muskel gedehnt wird, während das Widerstandsprofil bei sitzenden Beincurls gleichmäßiger verläuft. In diesem Versuch schnitt allerdings der sitzende Beinbeuger insgesamt in Sachen Hypertrophie deutlich besser ab. Zu beachten ist allerdings, dass der lange Kopf des Beinbeugers an der Hüfte ansetzt und somit bei sitzenden Beincurls mehr gedehnt wird als bei Nordic Curls, was eine sehr wahrscheinliche Erklärung für die besseren Zuwächse darstellt, zumal der lange Kopf der Bereich war, bei dem die größten Unterschiede festgestellt wurden.
Beide zuletzt genannten Studien haben aber – neben den bereits erwähnten Mängeln im Design – das große Manko, dass hier nicht wirklich eine Manipulation der Widerstandskurve untersucht wurde, sondern jeweils zwei komplett unterschiedliche Übungen miteinander verglichen wurden. Insofern können beide nicht wirklich bei der Beantwortung der eigentlichen Frage, und zwar ob es sinnvoll ist, die Widerstandskurve einer bestimmten Übung zu manipulieren, helfen und werden hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Zudem widersprechen sich die Ergebnisse beider Studien in Bezug auf die Fragestellung auch. Rückschlüsse in Bezug auf den Einfluss des Widerstandsprofils lassen sich also nicht ableiten.
Fazit
Auch wenn es zunächst naheliegend erscheint, so gibt es aktuell keine Beweise dafür, dass es Vorteile bringt, den Teilbereich einer Übung zu überladen, in dem der Muskel sich in gedehnter Position befindet. Stattdessen deuten die beiden bisherigen Studien, welche dies konkret untersucht haben, darauf hin, dass es in Hinsicht auf Hypertrophie keinen Unterschied macht, wie genau die Widerstandskurve einer Übung verläuft. Zwar ist es noch etwas zu früh, um hier ein finales Urteil zu fällen und weitere Studien sind erforderlich, aber anhand der vorliegenden Daten kann man zumindest sagen, dass dies aktuell der Stand der Wissenschaft zu diesem Thema ist.
Sollte sich das bewahrheiten, dann würde das nicht nur bedeuten, dass es keinen Vorteil bringt, Seitheben am Kabel auszuführen, sondern es würde auch viele andere von Influencern angepriesene Übungen wie Kabelcurls hinter dem Rücken ein Stück weit entzaubern. Wenn dir also einer von diesen wieder weismachen will, dass diese Varianten haushoch überlegen wären, ist zumindest Skepsis angebracht. Und wenn sie argumentieren, dass dieses Vorgehen von der Wissenschaft unterstützt wird, dann stimmt das schlicht und einfach nicht bzw. zeigt es, dass so mancher Science based-Influencer sich gar nicht wirklich mit der tatsächlichen Studienlage auseinandergesetzt hat. Und ganz ehrlich, manchmal braucht es auch keine Studien. Seitheben mit Kurzhanteln funktioniert nachweislich und hat jahrzehntelang erfolgreich eindrucksvolle runde Schultern aufgebaut. Vielleicht verstehen Bodybuilder ja doch ein wenig was von Muskelaufbau.
Überrascht dich dieses Ergebnis und wie trainierst du deine seitlichen Schultern? Verrate es uns hier!
Quellen:
- Larsen et al. (2024): Dumbbell versus cable lateral raises for lateral deltoid hypertrophy: an experimental study
- Nunes et al. (2020): Placing Greater Torque at Shorter or Longer Muscle Lengths? Effects of Cable vs. Barbell Preacher Curl Training on Muscular Strength and Hypertrophy in Young Adults
- Zabaleta-Korta et al. (2023): Regional Hypertrophy: The Effect of Exercises at Long and Short Muscle Lengths in Recreationally Trained Women
- Maeo et al.(2024): Hamstrings Hypertrophy Is Specific to the Training Exercise: Nordic Hamstring versus Lengthened State Eccentric Training