Quo vadis, Bodybuilding?

Im Rahmen einer Diskussion in unserem Thread zur EVLS Prague Pro hat sich kürzlich einer unserer User zu der Aussage verstiegen, ein Martin Fitzwater wäre selbst mit 10 kg mehr Magermasse in den Lineups des Mr. Olympia von 2000 bis 2010 nicht mal in der Top 6 platziert worden. Allgemein neigen Bodybuildingfans dazu, eine bestimmte Ära als den Höhepunkt des Sports zu titulieren und den aktuellen Athleten die Anerkennung zu verweigern. Eine gute Gelegenheit also, um mal ganz objektiv einzuordnen, wie der aktuelle Stand in Sachen Bodybuilding ist, wo die heutigen Athleten im Vergleich zu den Legenden der Vergangenheit stehen und wohin die Entwicklung dieses Sports derzeit geht.

 

Bevor wir uns aber der Fragestellung widmen, wie die aktuelle Ära zu bewerten ist, müssen wir uns zunächst auf eine Zeitreise begeben und noch einmal die gesamte Entwicklung des Bodybuildings über die Jahrzehnte Revue passieren lassen.

 

Wobei wir die Anfänge dieses Sports zu Beginn des 20. Jahrhunderts dabei mehr oder weniger überspringen können. Sicher, Athleten wie Eugen Sandow, Georg Hackenschmidt und andere waren die Wegbereiter der Körperkultur und ohne sie würde es Bodybuilding, wie wir es heute kennen, sicher nicht geben. Nicht umsonst ist die Trophäe beim Mr. Olympia Eugen Sandow nachempfunden, der 1901 in London auch den ersten Bodybuilding-Wettkampf überhaupt austragen ließ.

 

Aber diese ersten Shows hatten noch wenig mit dem heutigen Bodybuilding zu tun und auch die Athleten waren noch weit vom typischen Bild eines Bodybuilders entfernt. Am besten kann man die Entwicklung dieses Sports deshalb beurteilen, wenn man den Mr. Olympia, der 1965 zum ersten Mal stattfand und seit jeher als das wichtigste Event mit den besten Athleten gilt, als Referenz heranzieht.

 

 

Die Golden Era

Die 60er- und 70er-Jahre werden in der Szene als die “Golden Era” des Bodybuildings bezeichnet. Allen voran Arnold Schwarzenegger, der bis heute bekannteste Bodybuilder aller Zeiten, trug erheblich dazu bei, den Sport und muskulöse Körper im Allgemeinen auch für die breite Masse populär zu machen und quasi in den Mainstream zu befördern. Aber auch neben der Lichtgestalt Arnold ist die Liste der absoluten Legenden aus dieser Ära ellenlang. Namen wie Frank Zane, Tom Platz, Franco Columbo, Sergio Oliva, Mike Mentzer oder Lou Ferrigno kennt noch heute jeder Fan und zum Teil sogar Personen, die mit Bodybuilding ansonsten eher wenig anfangen können.

 

Der Fokus lag damals noch stark auf der Ästhetik und einem wohlproportionierten Körperbau. Muskelmasse war zwar schon zu dieser Zeit ein wichtiger Faktor und die Verwendung von Steroiden war ebenfalls schon weit verbreitet, allerdings waren die Athleten dieser Zeit trotzdem noch erheblich weniger außergewöhnlich als in späteren Dekaden. So konnte sich mit Frank Zane gleich drei Mal ein Athlet den Titel als Mr. Olympia sichern, der heutzutage mangels Muskulatur selbst in der Classic Physique nicht mehr konkurrenzfähig wäre.

 

Bodybuilder der Golden Era
In der Golden Era zählte vor allem eine ästhetische Linie.

 

Die 80er – eine Phase des Übergangs

Die 80er-Jahre waren eine Art Übergangsphase zwischen den Werten der Golden Era und den typischen Merkmalen des modernen Bodybuildings. Zwar wurde noch immer großer Wert auf Ästhetik und klassische Linien gelegt, allerdings wurden die Bodybuilder dieser Zeit auch schrittweise immer massiger. Zudem wurde auch die Härte zunehmend zu einem relevanten Faktor. So war Samir Bannout bekannt für seinen “Christmas Tree”, also einen stark definierten unteren Rücken, der mit seiner Form an einen Tannenbaum erinnerte und mit Rich Gaspari präsentierte auch erst einmal ein Bodybuilder einen gestreiften Gluteus, was heute quasi eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Abschneiden darstellt. Auch eine ausgeprägte Rückenmuskulatur gewann zunehmend an Bedeutung, was dazu führte, dass die Rückenposen immer wichtiger wurden und die Weisheit “shows are won from the back” sich etablierte. Sinnbildlich für all diese Entwicklungen steht der große Dominator dieser Ära, Lee Haney. Er vereinte eine ansprechende, klassische Linie mit guter Muskelmasse und einer für damalige Verhältnisse herausragenden Rückenpartie.

 

Bodybuilder der 80er-Jahre
Die 80er waren der Übergang vom klassischen zum modernen Bodybuilding.

 

Die 90er – der Beginn der Ära der Massemonster

In den 90ern begann dann die Ära der Massemonster oder – um noch etwas präziser zu sein – beim Mr. Olympia 1993. Der Brite Dorian Yates war einer der ersten Bodybuilder, die mit dem Einsatz von Wachstumshormonen experimentierte und schockte 1993 die gesamte Szene mit einer Muskelmasse, die man so noch nie zuvor gesehen hatte und die fortan alle Konkurrenten dazu zwang, ihrerseits aufzurüsten, was Muskulatur und PEDs angeht. Neben der Masse präsentierte Yates aber auch eine unfassbare Härte und definierte mit dieser Kombination den Standard im Wettkampfbodybuilding vollkommen neu. Auch die 90er hatten einige Legenden vorzuweisen und stellt für Freunde des Hardcore-Bodybuildings noch immer den Peak des Bodybuildings dar. Kevin Levrone, Shawn Ray, Nasser El Sonbaty, Paul Dillet, Flex Wheeler oder Lee Priest sind nur einige der Namen aus dieser Ära, die jeder Fan dieses Sports noch heute kennt und die zu den absoluten GOATs zählen.

 

Bodybuilder der 90er-Jahre
Die Lineups der 90er waren voll von Legenden des Bodybuildings, wie hier Shawn Ray, Dorian Yates und Flex Wheeler (von links).

 

Die 2000er – die Ära der Freaks

Wenn die 90er den Beginn der Ära der Massemonster markieren, dann stellen die 2000er den Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Ästhetik spielte ab dem Jahrtausendwechsel quasi überhaupt keine Rolle mehr, was zählte, war maximale Masse, gepaart mit unmenschlicher Härte. Das Zeitalter der Freaks hatte begonnen. Ein wichtiger Bestandteil dieser Entwicklung war die vermehrte Nutzung von Insulin, was dazu führte, dass die Athleten noch einmal deutlich massiver wurden, aber auch etwas weniger definiert wirkten. Außerdem trat zum ersten Mal das Phänomen des “Bubble Gut“, wie es der YouTuber Luimarco bezeichnete und was so in der Szene übernommen wurde, auf. Gemeint ist damit, dass die Mittelpartien bei einigen Bodybuildern trotz extrem niedrigem Körperfettanteil vermehrt breit und aufgebläht wirkten. Was dies verursacht, ist nach wie vor nicht abschließend geklärt, aber es ist naheliegend, dass es sich um eine Kombination von Unmengen an unterschiedlichen PEDs und den praktizierten Zwangsmasten der Massemonster handelt.

 

Im Jahre 2003 wurden die Bodybuilding-Fans auch Zeuge der mit Abstand freakigsten Physik, die jemals auf einer Bühne zu sehen war: der 2003er-Version von Ronnie Coleman. 1998 und 1999 war Ronnie vermutlich “schöner” und 2004 war er sogar noch einmal ein Stück schwerer, aber wenn es um das geht, was im Bodybuilding gewertet wird, dann ist Ronnie 2003 vermutlich der Peak des gesamten Sports. Niemals zuvor war ein Athlet so unfassbar muskulös und gleichzeitig so abgezogen. Arme, Beine und Rücken waren alle auf einem Niveau, um in jeder All Time-Bestenliste den ersten Platz zu machen. Und auch wenn nicht alle bekannten Athleten der 2000er unbedingt klassische Massemonster waren, die bekanntesten Athleten wie Ronnie, Jay Cutler oder Markus Rühl waren es definitiv.

 

Bodybuilder der 2000er-Jahre
Die 2000er waren hauptsächlich geprägt von der Rivalität zwischen Ronnie Coleman und Jay Cutler.

 

Die 2010er – Bodybuilding am Scheideweg

Die 2010er-Jahre waren weniger prägend in Sachen Entwicklung des Sports, sondern vielmehr eine Fortsetzung des vorherigen Jahrzehnts. Stellvertretend hierfür könnte man den Aufstieg von Big Ramy nennen, der bis heute wohl massivste Bodybuilder aller Zeiten. Auch sonst hielt der Trend zu mehr Masse aus den 2000ern an und leider waren auch die Bubble Guts allgegenwärtig. Dies führte dazu, dass auch mehr und mehr Fans unzufrieden waren mit der allgemeinen Entwicklung im Bodybuilding, das mehr und mehr einer Freakshow glich und immer weniger zu tun hatte mit dem ursprünglichen Ideal des perfekten männlichen Körperbaus. Eine echte Wende trat aber erst ein, als Arnold Schwarzenegger persönlich sich mehrfach zu Wort meldete, unter anderem in einem denkwürdigen Auftritt bei der Arnold Classic und das moderne Bodybuilding heftig kritisierte.

 

Niemand würde mehr aussehen wollen wie die modernen Athleten, die Proportionen würden nicht mehr stimmen und Beine und Hals wären inzwischen zu dick, waren nur einige seiner Argumente. Und wenn eine Legende wie Arnold zu solch harschen Worten greift, dann muss auch die IFBB reagieren. Und das tat sie dann auch. Zunächst wurde mit der Classic Physique eine neue Klasse geschaffen, die eher dem Ideal der Golden Era entsprach und in der Ästhetik mehr zählen sollte als schiere Masse. Aber auch bei den dicken Jungs hatte dieser Sinneswandel Folgen und eine zu ausladende Mittelpartie wurde abgestraft. Das traf schließlich sogar den 7-maligen Mr. Olympia Phil Heath, der gegen einen zwar erheblich weniger muskulösen, dafür aber optisch deutlich ansprechenderen Shawn Rhoden den Titel verlor, weil er aufgrund einer Hernie den Bauch nicht mehr unter Kontrolle hatte.

 

Bodybuilder der 2010er-Jahre
Auch Phil Heath (links) und Kai Greene lieferten sich in den 2010er spannende Zweikämpfe.

 

Das heutige Bodybuilding – Masse mit Klasse

Und damit wären wir in der heutigen Zeit angekommen. Auch wenn diese Ära erst ein paar Jahre alt ist und in dieser Zeit bereits vier verschiedene Mr. Olympias gesehen hat, die sich in Sachen Struktur zum Teil stark unterscheiden, so ist trotzdem ein klarer Trend erkennbar. Masse ist natürlich nach wie vor ein Faktor, was sich vermutlich auch nicht mehr ändern wird, und auch Härte steht noch immer hoch im Kurs bei den Judges. Aber tatsächlich ist auch Ästhetik und die Linie inzwischen wieder ein unverzichtbarer Aspekt, um sich ganz oben platzieren zu können. Athleten, die zwar äußerst muskulös sind, aber die Silhouette eines Kühlschranks haben und ganz besonders Blähbäuche sind inzwischen nicht mehr gefragt. Wenn jemand eine optisch wirklich ansprechende Linie hat, kann er sich sogar leichte Defizite in Sachen Härte erlauben. Das führt auch dazu, dass auch eine imposante Körpergröße mittlerweile wieder von Vorteil ist.

 

Nun wird der eine oder andere vielleicht argumentieren, dass mit Big Ramy zunächst ein absolutes Masseschwein und anschließend zwei eher kompakte Athleten Mr. Olympia wurden und dies meiner Darstellung widerspricht. Aber das greift meiner Meinung nach doch zu kurz. Big Ramy ist zwar die Definition eines Massemonsters, hat aber trotz allem recht ansprechende Proportionen mit einer vergleichsweise kompakten Taille und ultrabreiten Schultern. Hadi Choopan hat mit die besten Abs in der Geschichte des Bodybuildings und allgemein jederzeit eine bemerkenswerte Kontrolle über seine Mittelpartie, mit der er seine kompakte Struktur gut kaschieren kann. Und Derek Lunsford hat eine für seine Statur geradezu winzige Taille. Beide beherrschen eine tiefe Vakuum-Pose und zeigen diese auch oft – ein Feature, das noch vor zehn Jahren vermutlich kein einziger im Olympia-Lineup zustande gebracht hätte. Überhaupt, wenn man sich das Lineup im First Callout beim diesjährigen Mr. Olympia angeschaut hat, dann sieht man da keine Blähbäuche oder Athleten mit dem Körperbau eines Koffers, sondern ausgeprägte X-Frames, gut ausgearbeitete Abs und tiefe Vakuum-Posen.

 

Heutige Top-Bodybuilder
Die drei prägenden Athleten der letzten Jahre: Hadi Choopan, Samson Dauda und Derek Lunsford (von links).

 

Wie würden sich die heutigen Athleten in den Lineups vergangener Jahre schlagen?

Oder anders gesagt, wie ist die aktuelle Ära im Vergleich zu anderen einzuordnen? Bevor wir diese Frage beantworten können, ist es erst einmal wichtig zu definieren, welchen Maßstab man für die Bewertung überhaupt anlegt.

 

Und wenn man hier versucht, möglichst objektiv zu sein und sich einfach nur auf die beiden Konstanten Masse und Härte beschränkt, führt das schon mal zwangsläufig dazu, dass man die Golden Era und die 80er komplett ausblenden muss. So großartig einige der Legenden dieser Zeit auch waren, nach den Gesichtspunkten des etablierten Wertungssystems im Bodybuilding sind sie schlicht chancenlos. Aktuelle Athleten wie Samson Dauda oder Hadi Choopan hätten in den 70ern vermutlich für Ohnmachtsanfälle gesorgt und auch in den 80ern wäre der Vorsprung in Sachen Masse und Härte noch so groß gewesen, dass kein damaliger Teilnehmer auch nur den Hauch einer Chance gegen eine der heutigen Profis hätte.

 

Damit wären die Lineups der 90er-Jahre die ersten, die für einen Vergleich ernsthaft infrage kommen würden. Grundsätzlich muss man dazu sagen, dass Fans dazu neigen, beim Vergleich verschiedener Epochen einfach den jeweiligen Dominator dieser Ära als Referenz heranzuziehen – meist auch noch die jeweilige Peak-Version von diesem – und diese stellvertretend für das ganze Lineup zu betrachten. Ebenso lassen sich viele auch von der eher schlechten Bildqualität der Videos aus vergangenen Zeiten täuschen, die ironischerweise dazu führen, dass die Athleten sogar besser aussahen, anstatt schlechter. Ein Effekt, den man selbst heute noch manchmal sieht, wenn Handyaufnahmen eines Contests besser aussehen als die HD-Bilder. Hinzu kommt auch noch, dass bis zu den 2000er-Jahren die Hintergründe meist komplett schwarz waren und nur von oben beleuchtet wurden, was ebenfalls dazu beitrug, die Athleten besser aussehen zu lassen als bei den blinkenden und grellen Hintergründen, wie sie inzwischen gang und gäbe sind.

 

Wenn wir uns nun die 90er vor Augen führen, dann sprechen wir streng genommen auch erst von den Jahren ab 1993. So gut Lee Haney auch war, er hatte trotzdem schlicht nicht genug Fleisch, um mit den modernen Athleten mithalten zu können und auch in Sachen Härte war durchaus noch Luft nach oben. Das schließt selbst Flex Wheelers legendäres Paket von der Arnold Classic 1993 mit ein, das für viele die beste – und sogar für die meisten die schönste – Physik war, die je auf einer Open-Bühne zu sehen war. Trotzdem würde allein der Unterschied an Muskelmasse schon ausreichen, um ihm reelle Siegchancen bei einem heutigen Mr. Olympia abzusprechen. Erst als Dorian Yates die Ära der Massemonster einleitete, wurde das Niveau erreicht, um überhaupt Vergleiche zuzulassen. Und ja, ein Dorian wie 1993 würde auch heute vermutlich noch den Sieg einfahren können, wenn auch vermutlich weniger eindeutig als viele annehmen.

 

Aber man darf nicht vergessen, dass selbst Dorian bereits ab 1994 nicht mehr in einer vergleichbaren Form war, alleine schon aufgrund der Abrisse in den ohnehin schon vergleichsweise mäßigen Armen. Und sonst so? Schauen wir uns mal – ohne jedes Lineup Jahr für Jahr im Detail zu untersuchen – einfach die Profis an, die sich meist auf den vorderen Plätzen befanden. Kevin Levrone? Nahezu perfekt in der Frontansicht, aber maximal Durchschnitt im Rückenbereich. Shawn Ray? Sehr ästhetisch, aber einfach zu schmal. Paul Dillet? Brutale Front, sehr schwacher Rücken und grausiges Posing. Man könnte diese Liste natürlich noch weiter führen, aber der Punkt ist: So großartig die Athleten aus den 90ern auch waren, dass jeder von Ihnen heutzutage quasi im Vorbeigehen den Mr. Olympia gewinnen würde, ist einfach gelogen. Wer das wirklich glaubt, ist einfach nicht objektiv und macht sich was vor. Sicher, da sind einige Ikonen dabei und auch sehr viele zeitlos schöne Körper, aber wenn es um die Bodybuildingkriterien geht, ist kaum einer von ihnen wirklich makellos. Die heutigen Athleten würden allein mit ihrer Masse und Härte auch in den Neunzigern gut abschneiden und wären nur gegen die besten Versionen von Dorian und Ronnie (98 und 99) chancenlos. 1997 könnten die letzten Mr. Olympias sogar gewinnen, wenn man berücksichtigt, wie verbraucht Dorian damals aussah.

 

Kommen wir also zu den 2000ern und damit zu der Ära, um die es bei der ursprünglichen Fragestellung ging. Und sehr viel anders fällt der Vergleich auch hier nicht aus. Sicher, Ronnie 2003 wischt mit jedem anderen Bodybuilder in jeder Version und aus jeder Epoche den Boden auf, keine Frage. Aber selbst Ronnie sah nicht immer aus wie 2003 (und sogar da war er zwar brutal, aber nicht wirklich schön).

 

2001 und 2002 war er durchaus schlagbar und ab 2005 hatte er erkennbare Schwächen in Form von Dysbalancen durch Verletzungen. Und schauen wir uns mal an, wer sonst die Topleute aus den 2000ern waren. Jay Cutler ist eine Legende und ich persönlich bin ein Riesenfan. Aber ganz objektiv war Jay auch nur 2001 und besonders 2009 (ich sage nur Quadstomp) wirklich in Topform, 2008 und speziell 2007 hingegen so weich, dass er heute Schwierigkeiten hätte, überhaupt die Top 5 zu knacken. Gustavo Badell konnte zweimal den dritten Platz beim Mr. Olympia erkämpfen und ist heute nahezu vergessen, was – bei allem Respekt – eben auch seinen Grund hat. Dexter Jackson war immer für seine Konstanz bekannt und sah deshalb immer aus, wie Dexter eben aussah: sehr sehr stark, aber eben trotzdem keine Erscheinung, die einem den Unterkiefer nach unten klappen lässt. Selbiges gilt auch für Victor Martinez, der 2007 seinen All Time Peak hatte und um den Sieg betrogen wurde. Branch Warren war hart und freakig, aber definitiv nicht besser als vergleichbare Athleten von heute wie Hadi oder Derek. Apropos Freak: Es gab wohl wenig monströsere Bodybuilder als Markus Rühl, der aber bekanntlich nur ein einziges Mal wirklich in herausragender Form war. Also nein, so viel besser waren die Athleten der 2000er auch nicht, wenn überhaupt. Und die Top-Profis von heute wären auch damals genau das gewesen: Top-Profis.

 

Blieben also noch die 2010er-Jahre. Aber müssen wir da wirklich groß diskutieren? Phil Heath ist für mich die Nr. 2 hinter Ronnie in der GOAT-Debatte und war dementsprechend dominant. Kai Greene war ein sehr starker Verfolger und wäre ebenfalls in jeder anderen Ära gefährlich gewesen und die eine oder andere frühe Version von Big Ramy ist unterschätzt und vermutlich besser als seine Mr. Olympia-Form. Aber Kai war eben auch nur bis 2014 (beim Olympia) aktiv, Big Ramy regelmäßig außer Form und Phil hatte spätestens ab 2015 eine unschöne Mittelpartie. Shawn Rhoden war 2018 fantastisch, aber ebenfalls nicht immer in Form und speziell im Rückenbereich durchaus schlagbar.

 

Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass es schlicht falsch ist, dass die heutigen Athleten in vergangenen Epochen chancenlos wären. Tatsächlich würde ich sogar so weit gehen zu behaupten, dass ein Samson Dauda, ein Hadi Choopan oder eben ein Martin Fitzwater mit ihren jeweils besten Paketen nahezu immer konkurrenzfähig gewesen wären und um die vorderen Plätze mitkämpfen könnten. In Sachen Masse müssen diese sich jedenfalls nicht verstecken (Samson ist angeblich sogar der schwerste Mr. Olympia aller Zeiten), wenn es um Härte geht, dürften nur wenige mit einem Hadi in Topform konkurrieren können und selbst bei “weichen” Faktoren wie der Definition müssen sie sich nicht verstecken. Was aber die aktuellen Top-Profis besonders auszeichnet, ist, wie komplett diese sind. Wenn man Bilder von den Legenden aus den 90er- oder 2000er-Jahren sieht, dann fast immer in deren besten Posen und auf ihrem absoluten Peak. Dass diese aber längst nicht in allen Posen auf diesem Niveau waren, wird gerne ausgeblendet. Bei den drei genannten Beispielen für das Bodybuilding der 20er-Jahre ist es hingegen so, dass diese eigentlich keine wirklich schwache Pose haben. Sicher, auch diese sind nicht überall gleich gut und haben bessere und schlechtere Posen. Aber wirklich abfallen tun sie in keiner.

 

Und versteht mich bitte nicht falsch. Ich sage nicht, dass moderne Profis den Ikonen der Vergangenheit überlegen wären oder dass Dorian, Ronnie oder Phil nicht trotzdem ihre jeweiligen Ären dominieren würden. Aber es ist eben auch nicht so, dass sie Schwierigkeiten hätten, sich auch nur in den Top 10 zu platzieren.

 

Quo vadis, Bodybuilding?

Auch ganz allgemein möchte ich mal eine Lanze für das Bodybuilding der aktuellen Ära brechen. Ich denke, viele Fans wissen nicht zu schätzen, dass wir uns derzeit in einem äußerst spannenden, hochkarätigen und vielversprechenden Zeitabschnitt dieses Sports befinden. Und ich denke, sie hat sogar das Potenzial, zukünftig mit etwas Abstand als eine weitere Hochphase betrachtet zu werden. So konnte die Masse und Härte vergangener Jahre mindestens konserviert werden, wenn nicht sogar noch gesteigert, was die Hardcorefraktion zufriedenstellt. Aber daneben kommt der stärkere Fokus auf Ästhetik auch Fans des klassischen Bodybuildings und Gelegenheitszuschauern entgegen und hilft dabei, den Sport für die breite Masse zugänglicher und populärer zu machen.

 

Was die aktuellen Lineups besonders auszeichnet, ist auch, wie hoch die Qualitätsdichte in der Spitze ist. Oft wird bei der Diskussion über die Qualität der 90er- und 2000er-Jahre ausgeblendet, dass es hinter den jeweiligen Olympia-Siegern und ihren ärgsten Widersachern oftmals dünn wurde in Sachen Konkurrenz. Wenn man die verschiedenen Jahrzehnte also wirklich vergleichen will, dann sollte man fairerweise nicht nur die Top 3, sondern gleich die Top 6 oder gar die Top 10 einbeziehen. Und wenn man das tut, wird man bei objektiver Betrachtung unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass die Athleten von heute wesentlich besser sind als oftmals behauptet.

 

Alles in allem denke ich, dass der allgemeine Zustand des Bodybuildings in den 2020er doch recht erfreulich ist und wir in den nächsten Jahren noch einiges geboten kriegen werden. Was noch fehlt, ist der große Dominator für diese Ära, aber der aktuelle Mr. Olympia Samson Dauda hat bereits in den letzten Jahren eindrucksvoll bewiesen, dass er in der Lage ist, sich in kürzester Zeit signifikant zu verbessern. Sollte er diese Entwicklung fortsetzen und er vor allem weiter an seiner Härte arbeiten, dann besteht durchaus die Chance, dass er diese Rolle einnimmt und den Mr. Olympia in Serie gewinnen kann.

 

Und auch der Trend in Sachen Entwicklung lässt hoffen. Mit dem erfolgreichen Auftritt von Chris Bumstead in Prag und dem mehr als gelungenen Klassenwechsel von Keone Pearson, dem wohl genetisch am meisten gesegneten Bodybuilder aller Zeiten, könnte Ästhetik zukünftig sogar eine noch größere Rolle spielen. Vielleicht erleben wir in ein paar Jahren eine Men’s Open Klasse, die die Ideale der Golden Era mit dem Wow-Effekt des modernen Bodybuildings vereint. Ich zumindest hätte nichts dagegen.

 

Aber das ist natürlich nur meine Meinung, weshalb mich auch deine brennend interessieren würde! Wo siehst du das aktuelle Bodybuilding? Was wünschst du dir in Sachen Entwicklung? Diskutiere mit uns in diesem Thread!

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